Worb/Bern - Das Quietschen der Tramräder
Die Räder der RBS-Trams auf der neuen Bernmobil-Linie 6 quietschen wie in alten Zeiten und nerven die Anwohner. Mit dem Einbau neuer Räder soll das Problem gelöst werden. Ob es klappt, ist ungewiss.
Es ist ein Geräusch, von dem viele geglaubt hatten, es sei aus Bern verschwunden und zusammen mit den ausgemusterten Ur-Trams irgendwo in den Norden Rumäniens exportiert worden. Doch mit den Fahrplan- und Linienwechseln im letzten Dezember ist es wieder in die Stadt zurückgekehrt: das Quietschen, wenn ein Tram eine enge Kurve fährt. Nur hartgesottene Nostalgiker freuen sich darüber.
Denn seitdem das (rot-)blaue RBS-Bähnli nicht mehr auf dem Casinoplatz kehrt macht, sondern durch die Innenstadt und weiter bis ins Fischermätteli kurvt, tönt es entlang der Linie 6 wieder wie früher: laut. Beim Zytglogge verzieht ein Kind ob des Lärms das Gesicht und presst die Hände auf die Ohren. Urs Emch, Präsident des Holligen-Fischermätteli-Leists, konstatiert nüchtern: «Die Anwohner entlang der Linie berichten, dass das Quietschen extrem präsent ist.» Und auch auf der politischen Ebene tut sich etwas. Im Stadtrat wurden gestern Donnerstag gleich zwei Vorstösse zum Thema eingereicht, in welchen unter anderem gefordert wird, dass in der Zeit zwischen 22 Uhr abends und 8 Uhr morgens nur noch leisere Trams eingesetzt werden dürfen. Stadtrat Manuel C. Widmer (GFL) schreibt: «Die Klagen wegen Lärmbelästigung sind häufig und heftig.» Das Quietschen dringe auch durch Lärm dämmende Fenster.
Der «Slip-Stick-Effekt»
Doch weshalb quietscht ein Tram überhaupt? Und weshalb empfinden wir das Quietschgeräusch als besonders unangenehm? «Verantwortlich für das Quietschen ist in erster Linie der Slip-Stick-Effekt», erklärt Felix Hofer, Leiter Rollmaterial bei RBS. In einer Kurve legen die zwei Räder einer Achse nicht dieselbe Distanz zurück. Die äussere Spur ist länger als die innere. Bei einer starren Tramachse hat dies in engen Kurven zur Folge, dass eines der Räder nicht sauber drehen kann und rutscht (slip) oder kleben bleibt (stick). Dies versetzt das Rad in Schwingung, was sich im Quietschen niederschlägt. Hofer spricht von einer «hochfrequenten Korrektur des Rades». Das Rad auf der Innenseite der Kurve kreischt mehr als das äussere. Die Zentrifugalkraft erzeugt auf der Aussenseite einen stärkeren Druck, so läuft dieses Rad sauberer.
Das Problem macht graue Haare
So klar der Grund für den Lärm, so schwierig dessen Tilgung. Es gebe keine Standardlösung, sagt Hofer. Als Versuch montieren Mechaniker derzeit in der Werkstatt in Worb bei einem der neun RBS-Trams andere Räder. Die verschiedenen Radtypen unterscheiden sich in ihrem Innern. In ein Tramrad eingelassen sind nämlich Gummikörper, die Erschütterungen dämpfen sollen. Die Anordnung dieser Körper beeinflusst die Schwingungen des Rades und damit das Quietschverhalten. «Man kann sich dies wie bei einer Gitarre vorstellen», erklärt Hofer. «Eine dicke Saite tönt ganz anders als eine dünne.» Voraussagen, ob die neuen Räder in Kombination mit den RBS-Wagen tatsächlich leiser schwingen werden, lässt sich nicht. Hofer meint: «Wenn die Lösung des Problems einfach wäre, hätte ich weniger graue Haare.»
Bis im Februar soll der Versuch mit dem neuen Radtyp abgeschlossen sein. Ist er erfolgreich, will RBS bis Ende Jahr alle Wagen umrüsten. Kostenpunkt: eine Million Franken für die neun Fahrzeuge. RBS macht geltend, dass die Räder nicht früher ersetzt werden können, weil ein Radhersteller nicht wie abgemacht liefern konnte. Da die Fahrzeuge noch eine Lebensdauer bis 2023 haben, kommt ein frühzeitiger Totalersatz nicht infrage.
Fruchtet der Versuch nicht, gibt es weitere Alternativen. Vorstellbar ist beispielsweise eine Einrichtung, welche die Schienen in den Kurven automatisch schmiert. «Die Passanten hätten daran aber wahrscheinlich wenig Freude», sagt Hofer. Auch deren Schuhe würden Schmiere abbekommen.
Die Erklärung des Akustikers
Bleibt noch die zweite Frage. Diese beantwortet Professor Martin Kompis, Stationsleiter Audiologie am Inselspital. Es gebe drei plausible Aspekte, weshalb das Quietschen besonders unangenehm sei, sagt er. Erstens sei bei einem Quietschgeräusch sehr viel Energie auf einem schmalen Frequenzbereich konzentriert. Das heisst: Nur ein kleiner Abschnitt der Membrane im Innenohr schwingt, dieser aktivierte Teil dafür umso stärker. Das ist unangenehm. Zweitens sei das menschliche Gehör nicht in jedem Frequenzbereich gleich empfindlich, so Kompis. Ein Quietschgeräusch falle genau in den empfindlichsten Bereich. Als wäre dies noch nicht genug, kommt auch noch ein psychologischer Effekt hinzu. «Geräusche, die man nicht selber kontrollieren kann, werden allgemein als unangenehmer empfunden», erklärt Kompis. Spiele ein kleines Kind mit einer lauten Rassel, sei dies unangenehmer, als wenn man selber rassle. Ob mitquietschen hilft, wenn man sich über ein Tram aufregt, ist nicht bekannt.