Worb - Ein Herbsttag bei Tschaggelars
Zusammen sind sie bald 206 Jahre alt - und seit 79 Jahren verheiratet: Werner und Hanni Tschaggelar in Worb. Er streitet seit Jahren um die Zufahrt zum Haus. Sie ist froh, dass er «sonst ein ganz lieber Mensch ist».
Walter Däpp / Der Bund
«Wunderschön», sagt Hanni Tschaggelar, «die Herbstsonne lacht.» Dann zupft sie die Vorhänge zurecht, weil es «schier bländet» - und meint: «Wir sind oft im Garten, geniessen die Blumen, spazieren, ‹höckle zäme›.» Werner Tschaggelar nickt: «Ja, wenn das Wetter es erlaubt, sind wir im Garten. Da haben wir überall Stühle, auf die wir uns setzen können. Da finden wir immer ein Sonnenplätzchen.»
Werner zeigt, wo der «Bächu» das Grundstück ihres neunzigjährigen Häuschens begrenzt. Und während er darüber wettert, dass die Gemeinde ihm «hier den Weg zum Haus abgeschnitten hat» (Text unten), macht Hanni mit dem Rollator einige Schritte zu den Himbeersträuchern und hat schon bald «es Hämpfeli binenang». Sie ist froh, die Gartenarbeit nun ihren drei Töchtern überlassen zu können und «nur noch geniessen zu dürfen». Auch «d Chocherei» übernähmen an drei Tagen die Töchter. Zweimal komme die Spitex vorbei.
«Auch ich bin für den Frieden»
«Uns geht es also gut», sagt sie. Ihr sonniges Gemüt hindere sie daran, alt zu werden. Und dass Werner noch immer seinen langjährigen Streit mit der Gemeinde ums Zufahrtsrecht zum Haus austrage, sei halt einfach so: «Ich bin für den Frieden. Ihm ist es nicht wohl, wenn er nicht kämpfen kann. Er kämpft aber für Gerechtigkeit. Und es käme nicht gut heraus, wenn ich mich einmischen wollte. Ich muntere ihn aber auf.»
Auch er sei für den Frieden, fügt Werner an. Er kämpfe halt dafür. Hanni Tschaggelar kämpft derweil «den guten Kampf des Glaubens», wie ein Bibelspruch verkündet, der im Wohnzimmer aufgehängt ist. Im Gegensatz zu ihrem Mann ist sie «gläubig», wie sie sagt. Sie glaube an das, was in der Bibel steht - «hundertprozentig». Und sie bete. Auch für Werner.
Dieser kann damit allerdings nichts anfangen: «Schön, dass Hanni für mich betet - nur nützt es nichts.» Und: «Wenn es schon einen Allmächtigen geben soll, warum verhindert er denn keine Kriege?» Er glaube im Übrigen nicht an ein Leben nach dem Tod: «Tot ist tot. Da ist nichts mehr.» Hanni widerspricht: «Nein. Wenn man gestorben ist, ist nicht fertig. Wer gläubig gewesen ist, wer an Jesus und Gott geglaubt hat, kommt in den Himmel.» Werner: «Was nach dem Tod ist? Das wissen die Götter.»
«Sag Dankeschön mit roten Rosen»
Hanni und Werner Tschaggelar, seit 79 Jahren verheiratet, sind wohl das älteste Ehepaar der Schweiz. «Am 12. Juli 1934 war die Hochzeit», sagt Hanni Tschaggelar, «da versprachen wir uns, einander treu zu sein. Und das hat seither gegolten.» Sie hätten sich stets gegenseitig respektiert und aufeinander Rücksicht genommen. Und sich auch Freiräume zugestanden: «Er hat viel Sport getrieben, und er war ein begeisterter Musikant, Posaunist, hat viele Jahre in der Musikgesellschaft Worb gespielt - bis sie leider aufgelöst wurde.»
Das sei «eine liederliche Sache», diesen stolzen Verein eingehen zu lassen, ärgert sich Werner Tschaggelar: «Wir waren im Amt führend, haben einmal mit 49 Mann am Musikfest teilgenommen.» Für ihn («als eidgenössischer Veteran») sei deshalb unbegreiflich, dass es mit der Musikgesellschaft derart «z dürab» gegangen sei. Denn Musik gehöre doch zum Leben. Er habe jedenfalls auch heute noch jederzeit ein Liedlein parat, sagt er - und beginnt gleich zu singen: «Sag Dankeschön mit roten Rosen, zu deiner Frau so ab und zu einmal.»
Hanni hört Werners Liebeslied nicht. Sie sucht im Wohnzimmer nach alten Fotos. Doch statt auf Erinnerungsbildchen stösst sie auf einige Ehrenmedaillen und Plaketten. Aus einem Samtschächtelchen klaubt sie eine Henri-Dunant-Medaille hervor, die sie 1965 «für verdienstvolle Arbeit im Samariterwesen» erhalten hat. Auch eine Auszeichnung für Werners Vereinstreue beim Arbeiterturnverein kommt zum Vorschein. Und auch eine für seine 40-jährige Präsidentschaft beim Arbeiter-Motorradfahrerbund.
Mit seinem geliebten Motorrad, einer Harley-Davidson, habe er aber einen ganz, ganz kritischen Augenblick erlebt: Zwei Tage nach dem Hochzeitsfest sei er damit schwer verunglückt. Nach dem Aufprall sei er «von Sinnen gewesen», mit den schlimmen Kopfverletzungen sei es aber «wieder gut gekommen». Seither sei ihm und seiner Frau das Glück aber hold geblieben. Im Laufe der Jahre sei er zwar mehrmals ins Spital eingeliefert worden, «etwa wegen Gallensteinen». Doch nun gehe es ihnen im Grossen und Ganzen ausgezeichnet.
«Wir haben stets solid gelebt»
Sie hätten schliesslich auch «solid» gelebt, sagt Hanni: «Wir haben immer auf eine gute Ernährung geachtet, stets ‹unbschüttets› Gemüse aus dem Garten gegessen. Und wir haben nie geraucht und fast keinen Alkohol getrunken. Wir trinken Wasser, Tee oder koffeinfreien Kaffee.» Er habe aber ohnehin nie viel getrunken, sagt Werner: «Durst - das kenne ich nicht. Als Werkzeugschärfer ging ich manchmal tagelang ‹uf e Chehr›, ohne etwas zu trinken.»
Er war Schreiner, dann Maschinenmeister, bis er «auf die Schärferei» umstellte. Mit einem kleinen «Maschineli» ging er zu den Bauern und Handwerkern in der Umgebung und schärfte ihre Werkzeuge, Mähmaschinen oder Rasenmäher. Daneben schliff er auch Schlittschuhe. Sogar «bis Oberdiessbach und Zäziwil ueche u nach Bärn yche» habe er Kunden gehabt, sagt er, und «ganz guet gschäftet».
Mit 98 Jahren im Auto unterwegs
Mit 98 Jahren war Tschaggelar noch im Auto unterwegs, in seinem «Döschwo». Dann habe «Bern» ihm geschrieben, er fahre unsicher. Das habe man damals zwar «einfach so behauptet», ohne seine Fahrtüchtigkeit überprüft zu haben. Er habe aber anstandslos sein Billett abgegeben und «pfudere» nun halt mit dem «Steckmobil» durch die Gegend - mit seinem Elektrogefährt, «we chli Wätter isch». Seine bevorzugten Ziele sind Baustellen. Da gibt es immer etwas zu sehen. Auch immer etwa wieder etwas zu diskutieren. Und manchmal auch etwas zu reklamieren.
Politisch will er sich nicht festlegen. Als Arbeiter sei er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gewesen, doch mit ihr verbinde ihn heute nichts mehr. Der Schweiz wünscht er, «Mitglied des Völkerbunds zu werden», denn: «Käme es zum weltumspannenden Völkerbund, wo die Ungleichheiten unter den Ländern ausgeglichen würden, gäbe es keine Kriege mehr.»
Weil er für den Frieden kämpfe, sei er auch gegen den Kauf neuer Kampfflugzeuge: «Für was soll das gut sein? Um Bomben ‹abe z lah›?» Auch die Finanzkrise und die Milliardendefizite von Ländern, die «am Verlumpen» seien, begreife er nicht: «Ich war auch Kassier. Jahrelang. Im Töffklub. Da stimmte die Kasse.»
«Der liebe Gott meint es gut»
Hanni und Werner Tschaggelar setzen sich wieder aufs Bänkli vor dem Haus, stören sich nicht am Lärm auf der verkehrsreichen Bernstrasse und geniessen die wärmenden Strahlen der Herbstsonne. Werner erzählt aus seiner Jugendzeit, als er sich - als Sohn eines Zimmermanns - als Hüterbub und Feldmauser durchgeschlagen habe. Hanni, Tochter eines Schreinermeisters, weiss über ihre Kindheit nur Gutes zu berichten. Sie habe keinen Beruf gelernt, sondern ihr ganzes Leben lang «eifach gschaffet». Vor allem in der Migros. Und später in der Familie: «Wir haben drei Töchter, die sind nun 75-jährig, 73-jährig und 65-jährig - und inzwischen auch zehn Grosskinder und vierzehn Urgrosskinder. Wunderbar.» Der liebe Gott meine es also gut mit ihnen. Sie kämen immer noch «guet z Schlag» miteinander, hätten oft Besuch und «auch sonst immer etwas zu tun». Langweilig werde es ihnen nie.
Und sonst studiert Werner halt wieder an einem bösen Brief an die Gemeinde herum oder kurvt mit dem Elektromobil durchs Dorf. Und Hanni mit dem Rollator durch den Garten. «Mit dem Älterwerden muss man doch in Bewegung bleiben», sagt sie. Und lacht.
Der «Behördenschreck»
Die Briefe und Akten zum Streit um die gekappte direkte Zufahrt von der Worber Bernstrasse zu seinem Haus hat Werner Tschaggelar in etwa fünfzehn Bundesordnern dokumentiert. Er braucht keine Brille, um sich darin zurechtzufinden und seinen hartnäckigen Kampf gegen die Worber Gemeindebehörden mit Verfügungen und Briefen zu illustrieren. Und er gibt nicht auf: «Ich kämpfe immer noch dafür, dass meine Liegenschaft wieder erschlossen wird. Man hört allerdings nicht mehr auf mich. Von der Gemeinde vernehme ich nichts mehr. Ich lasse mich aber nicht abwimmeln. Und es ist mir egal, als Behördenschreck zu gelten.» Der Streit geht aufs Jahr 1976 zurück, als die Gemeinde beim Bau der Kunsteisbahn die direkte Zufahrt zu Tschaggelars Haus teilweise - und 2006 ganz - schloss. Erfolglos setzte er sich, durch alle Instanzen hindurch, dagegen zur Wehr. Und ging dabei nicht immer zimperlich vor. Nachdem er 1998 sogar gegen einen Bundesrat Drohungen ausgesprochen hatte, rückte die Polizei aus und beschlagnahmte seinen alten Karabiner und seine Schreibmaschine.
Mehr Hundertjährige
Ende Dezember 2010 lebten in der Schweiz 1332 über Hundertjährige - 1114 Frauen und 218 Männer. Im Kanton Bern waren es 180 - 31 Männer und 149 Frauen. In der Stadt Bern konnten 2011 17 Betagte ihren hundertsten Geburtstag feiern. Die Zahl der über Hundertjährigen ist in den letzten 40 Jahren stark angestiegen: Laut Bundesamt für Statistik von 2 im Jahr 1919 über 61 im Jahr 1970 auf 1332 im Jahr 2010. Seit 2000, als 787 Personen gezählt wurden, hat sich ihre Zahl also nahezu verdoppelt.
Laut Bundesamt für Statistik dürfte sich dieser Trend fortsetzen: Die derzeitige Altersstruktur der Schweizer Bevölkerung hat eine Beschleunigung der demografischen Alterung zur Folge und wird die Anzahl Personen im dritten und vierten Lebensalter in den nächsten Jahrzehnten ansteigen lassen. Gemäss Schätzungen wird - zwischen 2010 und 2060 - die Zahl der Schweizerinnen und Schweizer im Alter zwischen 65 und 79 Jahren um 53 Prozent (von 962 000 auf 1 472 000) ansteigen. Und die Zahl der Personen ab 80 Jahren um 55 Prozent (von 382 000 auf 1 041 000).