Wichtrach - Die Zeit anhalten

Die Galerie Henze und Ketterer in Wichtrach präsentiert zwei neue Ausstellungen. Gestische Malerei trifft auf klassische und zeitgenössische Landschaften.

Martin Bieri, Der Bund
Die Ausstellung im Kunstdepot ist der abstrakten und informellen Malerei des 20. Jahrhunderts gewidmet. Vertreten sind Künstler aus dem deutschsprachigen Raum, die ältesten der durchgehend grossformatigen Werke sind jene von Fritz Winter. Sie stammen aus den 1930er-Jahren. Winters Bilder sind hohe braune und von dunklen Linien gerahmte Gemälde mit Strich und Kreismustern auf Velinpapier. Oberfläche und Farbe lassen sie wie Holzplatten erscheinen.

Fritz Winter, ein Schüler Klees, malte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg abstrakt und wurde nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft zu einem der angesehensten Künstler der Nachkriegszeit in Deutschland. 1949 gründete er, dem eigenen Tun einen Namen gebend, die Gruppe der Gegenstandslosen mit, später ZEN 49. Sie setzte sich für eine breite Vermittlung der abstrakten Kunst ein. Diese wurde in den 1950er- und 60er-Jahren tatsächlich zur dominierenden Kunstform, nicht zuletzt unter dem Einfluss des abstrakten Expressionismus aus den USA, der wiederum von der Migration aus Europa vor dem Zweiten Weltkrieg profitiert hatte.Bei Henze und Ketterer sind mit Werken von Eble, Gumpert, Nay, Schultze und anderen eindrückliche Beispiele aus fast jedem Jahrzehnt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sehen. Diese historische Dimension der Schau spiegelt den grundlegenden Widerspruch und zugleich das Faszinosum des Informel wider: den Versuch, die Zeit anzuhalten. Diese Art des Malens legt so grossen Wert auf den Ausdruck, dass sie Gesten sichtbar machen, Bewegungen abbilden will. So als hinterliesse die flüchtige Regung einer Hand Spuren im Raum.

Dass mit der Ablehnung traditioneller Formen der Malerei und der Konzentration auf Expression und Spontaneität auch Wertvorstellungen und Lebensentwürfe verbunden waren, daran erinnern die Bilder Francis Botts, zu dem Wolfgang Henze ausführlich publiziert hat. Bott war ein Anarchist und Lebenskünstler, dessen Lebensweg um die halbe Welt, in den Spanischen Bürgerkrieg, den französischen Widerstand und schliesslich ins Tessin führte, wo er 1998 starb. Von ihm sind in Wichtrach Arbeiten aus den 1950er- und 60er-Jahren zu sehen, darunter solche, die sich mit dem Verhältnis des Informel zum Raum auseinandersetzen. «Tyranie de l’Espace» heisst ein helles, mit dunklen Linien durchzogenes Werk, direkt «Paysage (bleu)» ein anderes. Auch von Winter gibt es ein thematisch ähnliches Bild zu sehen: «Im weiten Raum» von 1951.

Ungelöstes Rätsel

Nicht unpassend also, beschäftigt sich der zweite Teil der Ausstellung mit der Landschaftsmalerei vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Das Entstehen der Landschaftsmalerei ist in der Kunstgeschichte eines der am breitesten diskutierten Probleme und in Teilen ein immer noch ungelöstes Rätsel. Wie sich das Genre in der Renaissance so rasch auf einem so hohen Niveau etablieren konnte, versetzt die Kunsthistoriker in Staunen. Die Rationalisten unter ihnen beschreiben es als die «Erfindung» der Landschaft, die Irrationalisten nennen es glatt ein «Wunder».

Denn Landschaften sind ja nicht einfach das, was die Menschen umgibt, sondern diese Umgebung im Zustand der ästhetischen Betrachtung. Mit anderen Worten: Jemand schaut hinaus und fühlt: «Oh!» Nur wurde dieses «Oh» später unmöglich, als die Landschaftskunst sowohl ihre Innovationskraft als auch ihre Motive verloren hatte, weil die Welt unterdessen ganz anders aussah und die traditionellen Landschaftsbilder nicht einmal mehr als Ideale dienen konnten, nur noch als Kitsch.

Die Älteren unter den bei Henze und Ketterer ausgestellten Künstlern wie Kirchner oder Erich Heckel, beide zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mitbegründer der Künstlergruppe Brücke, weiten das Thema mit ihren avancierten Mitteln zwar formal, aber nicht inhaltlich aus. Eine der eindrücklichsten unter den vielen traditionellen Landschaften im Galeriehaus ist, der besonderen Textur wegen, Christian Rohlfs «Schneeberg am See» von 1935. Die Zeitgenössischen hingegen problematisieren das Genre als solches. Nakis Panayotidis’ Fotos von ruinösen Fabrikarealen lösen klassische Vorstellungen ebenso auf wie seine Visualisierungen ganzer Kontinente mit Teer. Robert Klümpens Landschaften bestehen aus nächtlichen Neonlichtern und Strassenlampen. So sieht eine «Paysage bleu» heute, nach ihrem Verschwinden, aus.

[i] Die Ausstellung in Wichtrach bleibt bis 8. Dezember eingerichtet.

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Erstellt: 27.08.2012
Geändert: 27.08.2012
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