Walkringen - Muss es bei jedem Unfall einen Schuldigen geben?

Der Boden eines Holzturms bricht ein, und niemand kann belangt werden.

Anna Storz, Der Bund
Es ist Frühling 2009. Elf Forstwirtschaftsstudenten der Schweizerischen Hochschule für Landwirtschaft (SHL) und der leitende Oberförster der Waldabteilung Emmental und nebenamtliche Dozent der SHL stehen auf dem Holzturm im Brandiswald bei Walkringen. Plötzlich geben die Bretter unter ihren Füssen nach. Vier Studenten und der Dozent stürzen fünf Meter in die Tiefe, die restlichen sieben Männer können sich am Geländer der Plattform festhalten. Vier der fünf, die hinunterfallen, werden leicht verletzt. Der Fünfte schwer; er wird mit der Rega ins Inselspital geflogen und am Rücken operiert. Für ihn kommt die Hilfe jedoch zu spät: Er erleidet eine Paraplegie und wird lebenslang querschnittsgelähmt bleiben.

Gestern musste sich nun der Förster des Staatsforstbetriebes, der verantwortlich für besagten Waldabschnitt und Holzturm zeichnet, vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland verantworten. Ihm wurde seitens der Staatsanwaltschaft fahrlässige schwere Körperverletzung vorgeworfen. Er hätte die Moderfäule und die somit stark geschwächte Holzstruktur bemerken müssen, argumentierte sie. Er habe die Tragkonstruktion aber nur mit blossem Auge und somit zu ungenau geprüft. Verschärfend kam hinzu, dass die Bodenplatten des Holzturms bereits 2007 hatte ersetzt werden müssen. Der Grund hierfür: Sie waren morsch und von Pilzen befallen. Hätte der Förster den Zustand des tragenden Querbalkens damals mit geeigneten Mitteln überprüft, hätte er den Mangel festgestellt, so die Staatsanwaltschaft. Das Regionalgericht Bern-Mittelland sprach den Angeklagten gestern aber frei. Es fehle ein Element für einen Schuldspruch, sagte Gerichtspräsident Sven Bratschi bei der Verkündung des Urteils. «Ich habe das Gefühl, dass es ein Unfall war. Aber: Muss es bei jedem Unfall einen Schuldigen geben?»

Mehrere Faktoren spielten mit

Auch die Konstruktion des Holzturms spielte eine Rolle vor Gericht. Denn die sei mangelhaft, wie Verteidiger Lukas Wyss anführte. In der Ecke, wo der Boden brach, fehlte eine Verstrebung. Auch war der Tragbalken dort nur mit zwei Nägeln, «horizontal, auf gleicher Höhe», befestigt. Ob dies allein jedoch zum Einsturz geführt hätte, wenn das Holz gesund gewesen wäre, konnte nicht abschliessend beantwortet werden. Dass sich die Klasse zu zwölft auf die 2,25 Quadratmeter grosse Plattform begab, sei aber ebenso bedenklich.

Die beiden extern erstellten Gutachten schafften keine Klarheit bei der Frage, wer den Vermoderungsprozess des Holzes hätte feststellen können - und sollen. Als Quintessenz hielt Gerichtspräsident Bratschi fest, dass der Angeklagte wahrscheinlich chancenlos war, den Unfall zu verhindern. Nicht nur der Förster des Staatsforstbetriebes musste sich wegen des Unfalls vom Frühling 2009 vor Gericht verantworten. Insgesamt waren es drei Männer, zusätzlich noch der Bauleiter und der Projektant des Turms, gegen welche Strafvorwürfe wegen fahrlässigen Handelns erhoben wurden. Das Verfahren gegen letztere zwei wurde jedoch eingestellt, da verjährt: Der Turm wurde im Juni 2002 gebaut.

Bestraft wird folglich niemand für das Unglück. Die Kosten, die für das Opfer nun durch seine Behinderung entstehen, übernimmt seine Haftpflichtversicherung. Gemäss Verteidigung habe sich der Verunfallte glücklicherweise mittlerweile sehr gut zurechtgefunden mit seiner jetzigen Lebenssituation und die Ausbildung zum Forstingenieur abschliessen können.

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Erstellt: 30.08.2013
Geändert: 30.08.2013
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