Vechigen - Der «Glöckner» von Vechigen geht mit der Zeit

In Vechigen schlagen die Glocken wieder und die Zeit läuft weiter.

Rahel Bucher / Der Bund
Behutsam streichelt er über die verzierte Glocke. Der untere Rand ist mit blumigen Ornamenten geschmückt, und weiter oben erhebt sich ein Bär aus dem eisernen Gehäuse. «Die älteste Glocke stammt aus dem Jahr 1861, die jüngste ist von 1977», sagt Ruedi Walther. Er ist Sigrist der Kirchgemeinde und eine Art «Glöckner» von Vechigen. Heute ist für ihn ein grosser Tag, weil er die Verantwortung für die Glocken und damit die Zeit wieder übernehmen kann. Gleichzeitig sei es ein trauriger Tag, sagt er. Ein Tag, so ambivalent wie der Lauf der Zeit.

Stimmung im Glockenraum

Während der letzten drei Wochen stand in Vechigen nämlich die Zeit still – die Glocken und das grosse Turmuhrenwerk mussten revidiert werden. «Den Leuten hat etwas gefehlt», sagt Walther. Denn viele Vechiger hätten gar keine Uhr und verliessen sich auf die Kirchenuhr und die Glocken. Wenn er merke, dass die Leute vermehrt in Richtung Bahnhof eilen, wisse er, dass die Uhr nicht mehr genau laufe.

Nach der dreiwöchigen Zeitlosigkeit ohne Glockengebimmel läuft die Zeit heute weiter, und die Glocken ertönen wieder in voller Lautstärke. Leider läuteten sie heute ein trauriges Ereignis ein, sagt Walther. Ein kleines Kind werde beerdigt, das sei für ihn besonders schwer. Er schweigt. Durch die Fensterläden dringen Sonnenstrahlen, werfen kleine Lichtstreifen auf die mächtigen Glocken. Walther kennt jede Stimmung im Glockenraum hoch oben im Kirchturm, der im Jahr 1486 gebaut wurde.

Er weiss auch viel zu erzählen über die fünf Kirchenglocken, die in Vechigen die Zeit vorgeben. Die jüngste Glocke zum Beispiel sei «das schwarze Schaf», wie er sagt. Sie habe das Klangbild dermassen durcheinandergebracht, dass sich im Dorf heftiger Widerstand regte, sagt Walther. Dementsprechend hat sie im Kirchturm nicht gerade den prominentesten Platz bekommen. Sie hängt direkt über der grössten Glocke, welche 1,5 Tonnen wiegt, wodurch sie klanglich etwas untergehe, sagt er.

Walther scheint trotzdem alle zu mögen. Tagtäglich kümmert er sich darum, dass sie zur richtigen Zeit schlagen oder läuten und die Zeit nicht durcheinanderbringen. Beim Wechsel von der Winter- auf die Sommerzeit steht er sogar mitten in der Nacht auf, um die Zeitumstellung auf keinen Fall zu verpassen.

Mechanisches Uhrwerk

Immer wieder betont er den Unterschied zwischen Schlagen und Läuten. Alle Viertelstunden schlägt ein Hammer auf die Glocke und gibt die Zeit bekannt. Zur vollen Stunde schlägt die tiefe Glocke, sodass man mitzählen kann. Die Predigt am Sonntag dagegen wird mit Läuten angekündigt: Die Glocken schwingen während mehrerer Minuten hin und her. Das Schlagen ist eher ein weltliches, das Läuten dagegen ein kirchliches Zeiteinläuten, sagt er. Damit die Glocken überhaupt in Bewegung kommen und die Zeit regelmässig weiter läuft, gibt es ein grosses Turmuhrwerk, das hier noch mechanisch und fast ohne Strom läuft. Fritz Geissbühler, ein Spezialist in Sachen Kirchturmtechnik, schaut fasziniert auf das schwingende Pendel des Uhrwerks. Er ist der Mann, der in Vechigen die Zeit vorübergehend zum Stehen gebracht hat. Schon in der Lehre hat er Kirchenglocken und Uhren gebaut und repariert. Er möge seinen Beruf, weil er so vielfältig sei. Es klickt und klickt im Räderwerk vor ihm, man sieht und hört die Zeit laufen. «Man wird mit der Zeit alt», sagt er nachdenklich.

Eine Familientradition

Auch auf den Glocken hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Auslöser für die Revision waren denn auch die Klöppel, die wegen ihres Alters zu hart wurden und die Glocken von innen her beschädigten, erklärt Walther, der seine Aufgabe sehr ernst nimmt – genauso wie seine Vorfahren es getan haben. Walther führt eine Familientradition fort.

Schon sein Urgrossvater, sein Grossvater, sein Onkel und seine Mutter haben in Vechigen die Zeit gemacht. Bis 1955 mussten sie die Glocken noch mittels Seilen bedienen. Mit der Zeit habe man es damals noch nicht so genau genommen, erzählt Walther, es musste ja niemand auf den Zug. Man habe sich einfach nach der Sonne gerichtet. Er dagegen richtet sich nach der sprechenden Uhr, die unter der Nummer 161 fortlaufend die richtige Zeit durchgibt: «Beim nächsten Ton ist es 15 Uhr 25 Minuten 10 Sekunden.» Der «Glöckner» von Vechigen geht eben mit der Zeit.

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Erstellt: 29.04.2010
Geändert: 29.04.2010
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