Auto auf A6 entwendet: «Es ist einfach passiert»

Es war eine Polizeimeldung, die schweizweit für Schlagzielen sorgte. Ein Mann hatte auf der A6 bei Rubigen eine Frau aus ihrem Auto gezerrt und raste davon. Beim Grauholz verursachte er einen Unfall, indem er auf ein Polizeiauto auffuhr. Diese Woche stand der Angeklagte vor dem Berner Regionalgericht.

Rolf Blaser, rolf.blaser@bern-ost.ch

«Es geht mir schlecht», antwortete der Angeschuldigte auf die erste Frage des Gerichtspräsidenten. Es ist ein tragisches Bild, welches der Angeklagte (46) vor Gericht abgibt. Die Entwendung des Autos auf der Autobahn und der Unfall ereigneten sich im Dezember 2022. Seither sitzt der Mann in Untersuchungshaft im Berner Regionalgefängnis.

 

Angst vor Verwahrung

Er habe psychische Probleme und er hatte auch einen Nervenzusammenbruch, erwiderte der Angeklagte auf Nachfrage des Gerichtspräsidenten. Er nehme Beruhigungsmittel, zudem habe er sich im Gefängnis Schnittverletzungen zugefügt. «Ich dachte, das Leben sei nicht mehr lebenswert. Ich habe Angst vor einer lebenslangen Verwahrung», sagte der Mann zum Richter.

 

Alkohol und Drogen

Der Angeklagte leidet seit über 20 Jahren an einer schizoaffektiven Störung*, einer psychischen Erkrankung, die Elemente der Schizophrenie und einer Depression miteinander verbindet. Dazu konsumierte er viel Alkohol und Drogen. Er war in der Vergangenheit mehrmals in psychiatrischer Behandlung, mal ambulant, mal stationär.

 

Am Abend vor der Tat war er zu Hause und wollte jemandem fünf Gramm Kokain liefern. Er habe in der Bar gewartet, wo er mit dem Kunden abgemacht hatte, doch dieser sei nicht aufgetaucht. Kurz darauf sei er von Rockern aus der Bar verjagt worden, da diese meinten, er habe dort nichts verloren.

 

Angst vor Verfolgern

Bei sich daheim hatte der Angeschuldigte Angst, dass die Rocker ihm gefolgt waren und ihm das Kokain abnehmen wollten. Er ging nervös in seiner Dachwohnung umher und sorgte sich, dass sich die Nachbarn wegen Ruhestörung beschweren könnten. Er überlegte sich, die Polizei zu rufen, damit ihm die Rocker nichts antun könnten. Da kam ihm in den Sinn, dass die Polizei dann die Drogen finden würde, worauf er das Kokain selbst konsumierte.

 

Nach durchzechter Nacht war er am Morgen verwirrt und rief die Polizei an. Er bat die angerückten Polizisten, dass sie ihn erschiessen sollen, worauf die Polizei ihn ins Spital brachte. Dort bat er die Ärztin um einen Trank, der ihn umbringen würde. Darauf wurde er ins Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) verlegt.

 

Ab zur Autobahn

Am nächsten Morgen sei er aufgestanden und habe sich gut gefühlt. Er sei nach draussen gegangen, über die Mauer des PZM geklettert und davon. «Ich wollte weg, ab nach Spanien, dachte ich mir», schilderte der Angeklagten seine Gedanken von damals. Er rannte querfeldein, kletterte über einen Zaun und stand an einem Dienstagmorgen um neun Uhr auf der Autobahn A6.

 

Kurz vor der Ausfahrt Rubigen stoppte er ein Auto und forderte die Frau auf, aus ihrem Skoda Oktavia auszusteigen. «Sie sagte, ich könne nicht fahren, nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz und ich fuhr davon.» Er fuhr ohne Fahrausweis, dieser war ihm schon früher abgenommen worden.

 

«Es ist einfach passiert»

Wie mehrere Kameras belegen, fuhr er viel zu schnell und überholte mehrmals rechts. Vor Gericht beschrieb er die Fahrt mit den Worten: «Ich war völlig unter Strom, ich wollte das nicht. Es ist einfach passiert.» Kurz vor der Raststätte Grauholz sah er auf der rechten Spur ein Polizeiauto. Er dachte, dass die Polizei ihn wieder ins PZM Münsingen bringen will, wo er kalt abgeduscht und nach einer Spritze in der Isolationszelle landen würde. Das wollte er vermeiden und es kam zum Unfall.

 

Schweren Unfall verursacht

Gemäss Zeugenaussagen und Überwachungskameras prallte er mit überhöhtem Tempo von hinten in den Streifenwagen. Der Polizist, der den Streifenwagen lenkte, überstand die Kollision unverletzt. Deutlich schlechter erging es seiner Kollegin. Sie erlitt ein schweres Schleudertrauma und ist über ein Jahr später immer noch 100 Prozent arbeitsunfähig. Es sei davon auszugehen, dass sie nie mehr als Polizistin arbeiten werde. Der Angeklagte kam auf dem Pannenstreifen zum Stillstand und konnte verhaftet werden.

 

War es Absicht?

Vor Gericht ging es auch um die Frage, ob der Angeklagte den Unfall absichtlich herbeigeführt hatte. Seine Aussagen zum Zeitpunkt der Verhaftung bestätigten dies. Damals sagte er, er wollte verhindern, dass ihn die Polizei wieder einlieferte. Heute sagt er: «Es war keine Absicht, es tut mir leid, dass die Frau bis heute arbeitsunfähig ist. Ich hatte die Kontrolle verloren und es knallte.» Der Staatsanwalt, der die Anklage vertritt, geht davon aus, dass der Mann zum Zeitpunkt des Unfalls nicht schuldfähig war. 

 

Staatsanwalt plädiert auf schuldunfähig

Der Staatsanwalt eröffnete sein Plädoyer mit den Worten: «Ich sehe heute nicht den gleichen Angeklagten wie bei der ersten Einvernahme. Heute macht er klare Gedanken und Aussagen. Er hat aber auch Ängste. Was da passieren kann, haben wir gesehen.» Der Angeschuldigte habe sich in einer psychischen Notsituation befunden. Zu diesem Schluss seien verschiedene Therapieberichte sowie ein Gutachten gekommen.

 

«Nur wer schuldfähig ist, kann bestraft werden», weshalb der Staatsanwalt eine stationäre Massnahme forderte. Das heisst, der Angeklagte wird in einer Psychiatrischen Anstalt betreut und therapiert. «Das ist nicht lebenslänglich», so der Staatsanwalt. «Es besteht eine erhöhte Rückfallgefahr, die mit angemessener Therapie eingedämmt werden kann.»

 

Angst weggesperrt zu werden

Hier könnte die Geschichte enden. Anstatt den Mann hinter Gitter zu setzen, versucht der Staat ihm zu helfen. Der Angeschuldigte will davon aber nichts wissen, er sagte: «Im Gefängnis kam immer wieder die Angst, dass ich weggesperrt werde. Alle Insassen sprachen von lebenslanger Verwahrung. Sie sagten, ich müsste schon lange draussen sein, es war ja nur ein Unfall.»

 

Verteidigung plädiert auf schuldfähig

Der Richter versuchte dem Angeklagten zu erklären, dass ihm mit einer Massnahme und betreutem Arbeiten besser geholfen wäre als mit einer Gefängnisstrafe. Der Angeschuldigte liess sich davon nicht abbringen. Er habe im «Blick» über einen Verwahrten in der Anstalt Pöschwies gelesen, so wolle er nicht enden. Seine Verteidigerin plädierte dafür, das psychiatrische Gutachten nicht anzuerkennen.

 

Dieses sei nicht aufgrund einer psychiatrischen Untersuchung erstellt worden. Da sich der Angeschuldigte nicht habe untersuchen lassen, stützte sich dieses auf drei verschiedene zuvor erstellte Gutachten sowie auf den protokollierten Aussagen des Angeklagten. Dem Gutachten fehle es an Überzeugungskraft und es sei fehlerhaft.

 

Das Urteil

Der Richter verordnet für den Angeklagten eine stationäre Massnahme an mit Therapie in einer Klinik. Der geschilderte Drogenverkauf und die Rockerbande habe lediglich im Kopf des Angeschuldigten stattgefunden. Auch wie er aus dem Psychiatriezentrum Münsingen ausgebüxt sei, auf die Autobahn zu gehen, ein Auto anzuhalten und dann einen Streifenwagen abzuschiessen, deute nicht auf ein gesundes, normales Verhalten hin. «Es ist nicht nachzuvollziehen, wie Sie sich verhalten haben», so der Gerichtspräsident.

 

Nach dem Unfall beim Grauholz lehnte er im Spital eine Operation ab, trotz offener Wunde. «Das ist weit weg von dem, was man als normal erklären kann, weshalb wir von einer Schuldunfähigkeit ausgehen.» Klar gebe es Unklarheiten in Bezug auf das Gutachten, aber grobe Fehler finde man darin nicht.  

 

«Das hat nichts mit Ihnen zu tun»

«Die stationäre Massnahme in einer Klinik ist der richtige Rahmen. Daraus kann später betreutes Wohnen und Arbeiten entstehen», so der Richter. Wenn er dies selbst organisieren möchte, wäre dies sehr teuer und kaum zu realisieren. Abschliessend sagte der Richter zum Verurteilten: «Diese Massnahme ist nicht lebenslänglich. Sie erwähnten den Fall Pöschwies aus dem Blick. Das hat nichts mit Ihrem Fall zu tun.»

 

[i] Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Verurteilte kann innert zehn Tagen beim Berner Obergericht Berufung einreichen.

 

[*] Die schizoaffektive Störung ist eine psychische Störung, die sowohl Symptome der Schizophrenie als auch der affektiven Störung in sich vereint. Zusätzlich zu den Stimmungsbeschwerden durch eine affektive Störung (wie Depression oder Manie) treten hier Symptome wie Wahn oder Halluzinationen aus dem schizophrenen Formenkreis auf. (Quelle: Wikipedia)


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Erstellt: 10.01.2024
Geändert: 10.01.2024
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