Tag des Weissen Stocks: Eine Betroffene erzählt

Zum Tag des Weissen Stocks haben wir mit einer sehbehinderten Frau aus Rüfenacht gesprochen. Sie erzählt, welche Situationen schwierig sind und wann sie froh um Hilfe ist.

Rolf Blaser, rolf.blaser@bern-ost.ch

Elsbeth Bigler (65) ist in Vielbringen aufgewachsen und wohnt seit 20 Jahren in Rüfenacht. Seit ihrer Geburt ist sie sehbehindert, verschiedene Zellen des Sehnervs seien über die Jahre abgestorben. Bis sie 45-jährig war, konnte sie noch Velo-, Ski- und Autofahren. Danach war das nicht mehr möglich. Heute sieht sie auf dem einen Auge noch zehn, auf dem anderen 40 Prozent. Sie trägt starke Kontaktlinsen. Damit sehe sie vor allem Farben und Umrisse. Beispielsweise auf der grossen Anzeigentafel im Bahnhof Bern sehe sie lediglich "etwas Blaues mit weissen Linien."

 

Gleichfarbiges ist schwierig

"Ich sehe Menschen und auch Gesichter. Ich sehe auch Landschaften", sagt Elsbeth Bigler. Das Problem sei das Nahe und ähnliche Farben. "Wenn Boden und Treppen dieselbe Farbe haben, sehe ich das nicht. Da muss ich spüren, entweder mit dem Stock oder mit dem Fuss." Wenn sie allein aus dem Haus geht, hat sie den Weissen Stock immer dabei. "Mit dem Stock spüre ich Unebenheiten, Absätze, Rillen. Die weissen Streifen beim Bahnhof spüre ich besser als die gelben. Die weissen zeigen den Weg zum Gleis und Einstiegsorte. Die gelben weisen den Weg zum Postauto."

 

Leute, die aufs Handy schauen

Schwierig seien oft Baustellen oder wenn Dinge an Orten stehen, wo sie nicht sollten. Das könne ein Auto sein, welches über einen Parkplatz rausschaut, oder Schilder, die auf Augenhöhe angebracht sind. "Schilder am Boden spüre ich mit dem Stock." Oder wenn Sachen auf dem Trottoir stehen, wie Khüder, ein Blumentrog oder Tische, wenn rausgestuhlt wurde. Das sei manchmal schwierig. "Auch Leute, die zu Fuss unterwegs sind und aufs Handy schauen. Die sehen mich nicht und ich sehe sie zu spät."  

 

Hilfe anbieten

Wenn Elsbeth Bigler von Rüfenacht mit dem blauen Bähnli in die Stadt fährt, so gehe das gut. "Aber", sagt sie, "ich muss den Kopf bei der Sache haben und konzentriert sein. Sonst fahre ich in die falsche Richtung oder weiss plötzlich nicht, wo ich bin." Bigler schätzt es, wenn ihr Hilfe angeboten wird. Beispielsweise wenn sie aufs Bähnli wartet.

 

Am angenehmsten sei es, wenn die Leute fragen, ob sie helfen können. "Kann ich helfen?" Meistens fragen die Leute , ob sie sie am Arm nehmen sollen, oder ob sie einhaken will. "Am schlimmsten ist, wenn sie mich einfach packen. Das kommt aber zum Glück selten vor." Zur angebotenen Hilfe sagt sie: "Ja gerne. Manchmal auch, danke das ist lieb, aber es geht schon."

 

Einkaufen und Siri

Beim Einkaufen im Migros oder Coop komme sie gut zu recht. Sie weiss, wo die Sachen sind, die sie kaufen muss. Und wenn nicht, dann frage sie eine Verkäuferin. Manchmal passiere es auch, dass sie Artikel kaufe, die sie nicht wollte. Wenn die Verpackung geändert habe, sei das schon vorgekommen. Zuhause benutzt Bigler ein Bildschirmlesegerät. "Das brauche ich, um Post und Briefe zu lesen."

 

Für Zeitung und Bücher eigne sich das Gerät aber nicht. Das Handy sei auch ein praktisches Hilfsmittel. Aber sie sei noch nicht so gut damit. "Ich verwende auch ab und zu Siri, wenn ich jemanden anrufen will oder um eine SMS zu verschicken." Oder sie frage Siri, ein Hilfsprogramm des iPhones, nach dem Wetter, oder wann der Zug fahre. Das klappe ziemlich gut.

 

Die weissen Linien in den Bahnhöfen

Am Tag des Weissen Stocks wird auf die weissen Linien aufmerksam gemacht. Es passiere schon auch, dass Leute auf der weissen Linie stehen und sich unterhalten. So sei es schon zu Zusammenstössen gekommen. Aber, Bigler muss lachen, ihr sei es auch schon passiert, dass sie ausgerechnet auf der weissen Linie "gschnöret" habe. Grundsätzlich komme sie gut zu recht. "Auf Bahnhöfen sind die Signalisationen sehr hilfreich. Ich kann mich nicht beklagen."

 

 [i] Elsbeth Bigler arbeitete bis sie 45-jährig war in der Haco AG in Gümligen. Weil danach die Sehschärfe stark nachliess, arbeitete sie bis zur Pensionierung beim Blinden- und Behindertenzentrum Liebefeld. Heute geniesse sie ihre Pension. Ob man von Behinderung, Handicap oder Beeinträchtigung spreche, spiele für sie keine Rolle.

 

[i] Der Internationale Tag des Weissen Stocks findet am 15. Oktober statt.

 

[i] Haben auch Sie etwas beobachtet, gehört oder erlebt? Melden Sie uns Ihre Geschichte per Mail unter: info@bern-ost.ch


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Erstellt: 08.10.2021
Geändert: 08.10.2021
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