Stimmbeteiligung höher als anderswo: In Bolligen wohnt das fleissigste Stimmvolk
Morgen ist Abstimmungssonntag. Wer wetten möchte, wo die Stimmbeteiligung am höchsten sein wird, sollte auf Bolligen setzen. In keiner anderen Berner Gemeinde dieser Grösse gehen prozentual mehr Leute an die Urne.
Vor dem Reberhaus, dem Bolliger Kulturzentrum, plätschert friedlich der Brunnen. Am Kirchturm vis-à-vis glänzt das Zifferblatt in der Abendsonne. Vorne, an der Sternenkreuzung, staut sich wie immer der Feierabendverkehr. Und mitten in der Szenerie mahnt die orangefarbene Tafel mit dem emporgestreckten Zeigefinger: «Dieses Wochenende Abstimmung».
Diesen Aufruf nehmen sich die gut 6000 Bolligerinnen und Bolliger zu Herzen: Bei eidgenössischen Abstimmungen ist die Agglogemeinde punkto Stimmbeteiligung stets unter den Top 10 im Kanton Bern. Überflügelt wird sie höchstens von Kleinstgemeinden wie Rebévelier oder Monible mit weniger als 50 Einwohnern. Von den Gemeinden ab einigen Hundert Einwohnern ist Bolligen in der Regel Spitzenreiterin. Im Mehrjahresvergleich ist die Stimmbeteiligung 10 Prozentpunkte höher als im landesweiten Durchschnitt. Dieser lag letztes Jahr bei 53 Prozent, während die Bolliger Beteiligung 64 Prozent betrug (Kasten rechts).
Ältere Leute
Neben der orangefarbenen Tafel beim Reberhaus steht Rudolf Burger, Gemeindepräsident und promovierter Politologe. «Nein, wir unternehmen nichts Besonderes, um die Stimmbeteiligung zu erhöhen», sagt er. Nur einen kleinen Luxus gönne man sich: Nebst jenem in Bolligen unterhält die Gemeinde auch je ein Abstimmungslokal in Geristein und Ferenberg, um den Weg von den Aussenbezirken zur Urne etwas zu verkürzen. «Aber allein daran liegt es sicher nicht.»
Bei der Ursachenforschung kommt Rudolf Burger rasch auf die Altersstruktur zu sprechen. In Bolligen leben deutlich mehr 60- bis 70-Jährige als anderswo – «Leute dieser Altersgruppe sind fleissige Stimmbürgerinnen und Stimmbürger», sagt Burger. Zudem haben viele Leute aus dem oberen Mittelstand ein Haus gekauft, Kantons- und Bundesbeamte, die sich erfahrungsgemäss stark für politische Themen interessieren. Ähnlich viele gut verdienende und gut ausgebildete Leute leben in den Gemeinden Bremgarten, Muri und Kirchlindach, die bei der Stimmbeteiligung ebenfalls auffallend oft Spitzenplätze belegen.
Viele Parteien
Alter und Bildung seien Merkmale einer hohen Stimmbeteiligung. Diese hänge aber auch stark vom Vereinsleben und von den politischen Parteien ab, erklärt Politikwissenschaftler Claude Longchamp, der das Forschungsinstitut GFS Bern leitet. «In Bolligen sind die wichtigsten Parteien der Agglomeration vertreten, hinzu kommt die Bürgerbewegung, die den Gemeindepräsidenten stellt», so Longchamp. «Das sind eher unübliche Verhältnisse, die sich förderlich auswirken können.» Dem pflichtet auch Gemeindepräsident Burger bei: Dank der vielfältigen Parteienlandschaft gebe es viele politische Versammlungen, bei den Gemeindewahlen mehr Wettbewerb und mehr politische Beiträge im Lokalblatt.
«Hausbesitzer interessieren sich stärker für Politik»
Die Spitzenstimmbeteiligung in Bolligen sei auch, aber nicht nur auf den höheren Altersdurchschnitt zurückzuführen, sagt der Berner Politologe Adrian Vatter.
Herr Vatter, warum gehen die Leute in Bolligen fleissiger abstimmen als anderswo?
Adrian Vatter: Ich sehe zwei Hauptgründe. Erstens leben in Bolligen überdurchschnittlich viele Leute mit höherem Einkommen und Bildungsgrad, der Altersdurchschnitt und der Anteil der Eigenheimbesitzer ist ebenfalls höher. Der andere Hauptgrund ist die aktive Politik des Gemeindepräsidenten und des Gemeinderates. Es gehört sogar zu seinen Legislaturzielen, die Stimmbeteiligung zu fördern.
Das Alter ist also nicht der einzige Faktor für eine hohe Stimmbeteiligung. Aber ist es der wichtigste?
Man muss differenzieren. Es stimmt zwar, dass Junge seltener an die Urne gehen als Ältere. Bei der Altersgruppe 70+ nimmt die Stimmbeteiligung aber wieder ab. Am häufigsten gehen erfahrungsgemäss die 50- bis 70-Jährigen abstimmen – und diese Altersgruppe ist in Bolligen tatsächlich deutlich höher als im schweizerischen Durchschnitt.
Und warum steigert der hohe Anteil Eigenheimbesitzer die Stimmbeteiligung?
Wenn ich ein Haus gekauft habe und meine Kinder im Ort zur Schule gehen, interessiere ich mich automatisch stärker für politische Entscheidungen. Denn ich bin direkter von ihnen betroffen, zum Beispiel von einer Schulhauserweiterung oder einer Ortsplanungsrevision.
Was können Gemeinden mit tiefer Stimmbeteiligung tun, um mehr Leute zu mobilisieren?
Sie können sich ein Beispiel an Bolligen nehmen. Und sie können versuchen, komplizierte politische Inhalte möglichst einfach zu kommunizieren. Zum Beispiel mit Zusammenfassungen, wie sie das Easyvote-Büchlein für 18- bis 25-Jährige bietet. Ebenfalls wichtig ist, die Neuzuzüger anzusprechen und sie möglichst gut mit ihrer neuen Heimat vertraut zu machen. Denn Neuzuzüger beteiligen sich am Anfang häufig nicht am politischen Geschehen.
So hoch in Bolligen die Beteiligung bei Urnenabstimmungen ist, so tief ist sie bei Gemeindeversammlungen. Wie liesse sich da Gegensteuer geben?
Die Gemeindeversammlung ist eine anspruchsvolle Form der Mitwirkung. Man muss sich Zeit nehmen, hinzugehen. Das machen viele vor allem dann, wenn sie persönlich betroffen sind. Die Gemeinden tun deshalb gut daran, frühzeitig und einfach zu informieren. Man darf aber nicht vergessen: An eine GV kommen in der Regel 3 bis 5 Prozent der Stimmberechtigten. Es sind aber nicht immer die gleichen: Über längere Zeit gesehen besucht immerhin etwa ein Drittel der Leute ab und zu eine Versammlung.
Zur Person: Adrian Vatter ist Professor für Schweizer Politik und Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.