Solaroffensive Richigen: Mit dem Aufbruch kommen auch Probleme
Nach dem Strompreisschock vom letzten Herbst wurden in Richigen zahlreiche neue Photovoltaikanlagen gebaut. Für die Licht- und Kraftgenossenschaft bringt das Entlastung – aber auch ganz neue Probleme. Paul Gerber und Stefan Hagen sind im Dauereinsatz.
„Heuschrecken“ sind im Wirtschaftsjargon Firmen, die andere Firmen aufkaufen, zerschlagen, und sie mit höchstmöglichem Gewinn wieder abstossen. Die „Heugümper“, die in Richigen einfielen, waren anderer Art. Sie kamen, bauten Photovoltaikanlagen, und sind nun schon wieder weg. Seither gehört Richigen zur Avantgarde der Solaroffensive.
Der Schock
Letzten Herbst war Richigen schweizweit bekannt geworden als das Dorf mit den höchsten Strompreisen. Die Licht- und Kraftgenosenschaft LKR, die den Weiler mit Strom versorgt, war von den massiv steigenden Strompreisen überrumpelt worden und hatte, im Nachhinein ist man immer schlauer, auf dem Höhepunkt des Preisschocks den Strom für 2023 eingekauft. Die Verbraucher:innen mussten eine Preiserhöhung von rund 150 Prozent in Kauf nehmen und zahlen heute stolze 64 Rappen pro Kilowattstunde, schon eingerechnet ein 5-Rappen-Rabatt, den die LKR im letzten Herbst beschlossen hat (BERN-OST berichtete, Zahlen siehe unten).
Die Heugümper
In der Folge wandte sich die Firma „Solarheugümper“ an die LKR, mit dem Versprechen, deren Strompreisprobleme „stark entschärfen“ zu können, erzählt Firmeninhaber Dario Kaufmann am Telefon. Es gab eine Infoveranstaltung, die auf grosses Interesse stiess. Vier Monate später sagt Kaufmann zu BERN-OST: „Das Problem ist halb gelöst.“ Die Solaranlagen in Richigen würden nun rund 40 Prozent des Jahresverbrauchs selber produzieren. Zum Abschluss lud seine Firma Kund:innen und Einwohner:innen ins Rössli zu einem Apéro ein.
Die Offensive
Tatsächlich wurden allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres in Richigen 21 neue Solarstromanlagen gebaut oder geplant. Zählt man die sieben Anlagen dazu, die in den zehn Jahren davor gebaut wurden, kommt man auf einen Jahresertrag von 485 MWh. Das sind gut 37 Prozent von dem, was Richigen pro Jahr verbraucht. Die „Heugümper“ bauten acht dieser neuen Anlagen, den Rest bauten andere Anbieter.
Die Energiestrategie 2050+ des Bundes sieht als Ziel vor, 40 Prozent des in der Schweiz benötigten Stroms mit Sonne zu produzieren. Dieses Ziel hat Richigen schon bald erreicht und gehört damit zur Schweizer Avantgarde.
Die Aussage, das Problem sei nun halb gelöst, muss man allerdings ganz wörtlich nehmen, wie auch Dario Kaufmann selber einräumt. „Wir haben unseren Teil gemacht, jetzt ist die Genossenschaft dran“, sagt er.
Problem Nummer 1
Diese ist nun mit zwei Folgeproblemen konfrontiert, wie LKR-Präsident Paul Gerber und Sekretär Stefan Hagen im Gespräch mit BERN-OST erklären. Das eine ist allgemein bekannt: Die Sonne scheint nur tagsüber. Strom braucht es aber auch abends und bei Regenwetter. Damit produzieren die Solaranlagen manchmal zu viel und manchmal zu wenig Strom. Das relativiert die 37 Prozent, die die Anlagen zum Verbrauch beisteuern. Denn was am Mittag zu viel an Strom produziert und ins Netz eingespiesen wird, muss man abends einkaufen. Damit steht die Genossenschaft vor der Frage, was sie mit dem überschüssigen Strom macht, sprich, an wen sie ihn weiterverkauft, nachdem sie ihn den Anlagebesitzer:innen zu einem fixen Preis abgenommen hat.
Naheliegend als Abnehmerin wäre die BKW, die das Stromnetz rund um Richigen betreibt und auch die Gemeinde Worb versorgt, zu der Richigen gehört. Die BKW zahlt aber ständig ändernde Tagespreise. Diese können im Hochsommer auch mal negativ sein, die Genossenschaft müsste dann sogar dafür zahlen, dass sie den Strom einspeisen darf.
Lösung Nummer 1
Dieses Problem verkleinert sich, je mehr Richigen den selber produzierten Strom auch selber verbraucht. Das kann zum Beispiel geschehen, indem man Stromfresser wie Waschmaschine oder Tumbler laufen lässt, wenn die Sonne scheint und auch den Boiler tagsüber aufheizt. Wer eine eigene Solaranlage auf dem Dach hat, werde das aus Eigeninteresse so machen, erklären Gerber und Hagen. Schliesslich erhält man für den Strom, den man ins Netz einspeist, weniger Geld als man bezahlt, wenn man Strom bezieht.
Wenn die Solaroffensive aber dem Dorf Richigen und der Genossenschaft als Netzbetreiberin helfen soll, müssten alle darauf achten, möglichst einen grossen Anteil des Stromverbrauchs bei Sonnenschein zu decken. Man könne versuchen, die Leute zu sensibilisieren, aber sie nicht zwingen, so Gerber. „Unser Glück ist, dass wir nicht nur Anlagen auf Süddächern, sondern auch auf Ost-West-Dächern haben“, so Hagen. Dadurch verteilt sich die produzierte Strommenge besser über den Tag.
„Das Ziel muss sein, möglichst viel Strom selber zu produzieren und diesen aber auch selber zu verbrauchen“, schaut Hagen in die Zukunft.
Problem Nummer zwei
Dieses grössere und langfristige Ziel könnte die Genossenschaft mittelfristig aber mit einem weiteren und ganz neuen Problem konfrontieren: Wer seinen selber produzierten Strom verbraucht, kauft weniger oder keinen Strom ein. Der Preis pro KWh Strom beinhaltet aber nebst der Energie auch eine Abgabe für das Stromnetz. Dieses Geld steckt die Genossenschaft in den Unterhalt des eigenen Netzes. Werden diese Einnahmen kleiner oder gehen sogar gegen Null, fehlt der Genossenschaft dieses Geld.
Keine Lösung in Sicht
„Normalerweise ist das kein Problem. Aber weil wir erstens sehr klein sind und nun zweitens einen grossen Anteil Strom selber produzieren, kann es eines werden“, so Hagen. Für dieses wie auch andere „Detailprobleme“ hat das Ende letztes Jahr zackig überarbeitete Energiegesetz noch keine Lösungen bereit.
Richigen als Avantgarde
Richigen wird damit dank dem Rekordpreis für den Strom auch zum Versuchslabor für zukünftige Lösungen. Das kann auch die Chance sein, eine Vorreiterrolle einzunehmen. „Ja, uns hat es am Gring gepreicht und das hat jetzt verschiedenes angestossen“, sagt Paul Gerber. Für die Genossenschaft, die bis vor Kurzem relativ unkompliziert und mit wenig Aufwand funktionierte, ist die Situation eine Herausforderung. „Wir müssen ein Businessmodell finden, das auch funktioniert, wenn wir keinen oder kaum Strom verkaufen“, so Hagen. Auch sei man am Schauen, wie der Aufwand besser verteilt werden kann. Er selber wende zurzeit mindestens einen Tag pro Woche auf für die Genossenschaft auf, früher waren es ein paar Stunden pro Monat.
Was sich bald klären wird
Ende April trifft sich die Genossenschaft zur Generalversammlung Einige Fragen werden dort geklärt werden. So werde der Vorstand beantragen, sich zu vergrössern, sagt Paul Gerber. Weiter werde man einen Vorschlag machen, wohin die Genossenschaft den überschüssigen Solarstrom verkaufen könnte und auch darüber informieren, wie teuer der Strom 2024 wird. „Billiger als jetzt“, so viel könnten sie verraten, sagt Hagen. Auch die Möglichkeit, sich einem Einkaufspool anzuschliessen, habe der Vorstand geprüft und werde über das Ergebnis informieren.
Im Übrigen haben sich auch Paul Gerber und Stefan Hagen der „Richiger Solaroffensive“ angeschlossen. Die Familie Gerber produziert dank einer Anlage der „Solarheugümper“ 30 MWh pro Jahr, die geplante Anlage der Familie Hagen wird rund 11 MWh beisteuern.
[i] Zahlen:
Einzeltarif 2022, ohne MWST: 25.80 Rp./kWh,
Einzeltarif 2023, -5 Rp. Rabatt, ohne MWST: 64.10 Rp./kWh
Das sind 148 Prozent mehr. Die 5 Rp. Rabatt wurden an der ausserordentlichen GV vom 22.09.2022 beschlossen
In den unten verlinkten BERN-OST-Artikeln («Bis über 40 Prozent: So steigen in der Region die Strompreise» und «Strompreise: Richigen ist teuerstes Dorf der Schweiz» haben wir die Preise und Preiserhöhungen anders kalkuliert. Die Zahlen stimmen deshalb nicht ganz überein.)
In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden in Richigen 21 neue Solarstromanlagen mit einem Gesamtertrag von 364 Megawattstunden (MWh) pro Jahr gebaut oder geplant. Zählt man die sieben Anlagen dazu, die in den zehn Jahren davor gebaut wurden, kommt man auf einen Ertrag von 485 MWh pro Jahr. Das sind gut 37 Prozent der 1300 MWh, die Richigen pro Jahr verbraucht. Die „Heugümper“ bauten acht dieser neuen Anlagen und steuern damit 140 MWh pro Jahr bei. Den Rest bauten andere Anbieter.