Schwingen: Die Verwandlung

Vom Bruder Leichtfuss zum möglichen Bruderschreck: Mit der Qualifikation für den Unspunnen-Schlussgang hat Curdin Orlik die innerfamiliären Karten neu gemischt. Der 25-jährige Wahlberner, früher kein Trainingsweltmeister, sagt: «Ich fange gerade erst richtig an.»

Philipp Rindlisbacher, BZ

«Orlik, der Zweite» titelte eine Zeitung. «Der falsche Orlik steht im Schlussgang», meinte das Schweizer Fernsehen während des Unspunnen-Schwingets. Und als der Fotograf vergangene Woche beim Interviewtermin den 187 Zentimeter grossen und 105 Kilogramm schweren Brocken sieht, ist er verwirrt und meint, er habe jemand anders erwartet.

Nicht wenige denken beim Namen Orlik an Armon, den zwei Jahre jüngeren Bruder, der die Schwingerwelt eher früher als später erobern soll. Curdin, von dem diese Geschichte handeln wird, steht oft in dessen Schatten. Es hat ihn beschäftigt, früher, als Armon seinen Siegeszug lancierte, 2016 am «Eidgenössischen» in Estavayer um den Titel kämpfte. Doch er hat damit zu leben gelernt und sowieso: Da sind die innerfamiliären Karten, welche seit dem Unspunnen-Schwinget vergangenen August neu gemischt sind. Die allerletzten Kraftreserven musste Christian Stucki im Schlussgang in Interlaken mobilisieren, um Curdin Orlik zu bodigen – mit der Darbietung am wichtigsten Fest der Saison hat sich dieser vom Bruder emanzipiert. Es hat ihm gutgetan. «Ich habe gezeigt, dass ich ähnlich gut schwingen kann wie Armon. Dass man mit uns beiden rechnen muss.»


Abgetaucht in Interlaken


Die Orliks verstehen sich gut, auch wenn die Treffen im Elternhaus in Maienfeld selten geworden sind, seit aus Curdin Orlik, dem Bündner, ein Berner geworden ist. In Zollikofen studierte er Agronomie, nun arbeitet er als Projektleiter bei IP-Suisse. Bald steht der Umzug nach Rubigen an, sein zweijähriger Sohn lebt derweil bei der Mutter in Kandersteg. Auf die vergangene Saison hin wechselte Orlik von der Nordostschweizer zur Berner Schwingerequipe; weil er wegen eines Praktikums auf einem Bauernhof in der Nähe von Yverdon 2014 gar in die Mannschaft der Südwestschweizer integriert war, gehört er zu den wenigen, die für drei verschiedene Verbände kämpften.

Allzu gerne würden ihn die Nordostschweizer in ihren Reihen wissen, Anfragen hat es zuhauf gegeben. Der Sennenschwinger aber will ein «Berner» bleiben, zumal er sich mit den meisten Kaderathleten gut versteht, von den Verantwortlichen geschätzt wird. Wobei: Die Beziehung hätte wohl Risse erhalten, wäre der Schlussgang am Unspunnen mit einem «Gestellten» zu Ende gegangen, und der Innerschweizer Joel Wicki als lachender Dritter zum Profiteur geworden. Die Gerüchte, wonach es eine teaminterne Stallorder gegeben habe, mag der 22-fache Kranzgewinner nicht mehr hören, er bezeichnet sie als «lächerlich», zumal er vor dem Schlussgang abgetaucht sei. Orlik zog sich zurück, sprach nur mit der Mentaltrainerin, kam sogar zu spät in die Arena. Er habe während des Kampfes keine Sekunde lang ans Szenario gedacht, dass die Berner den Titel verspielen könnten. «Ich bin Einzelsportler. Das Team ist wichtig, aber jeder will doch selbst gewinnen.»

Aha-Erlebnis in Estavayer

Stucki und Orlik waren sich bereits im vergangenen Juni auf dem Gurten im Schlussgang gegenübergestanden, «zack, zack, und ich lag auf dem Rücken», erzählt der Wahlberner, der mit seinem Schalk besticht und sagt, Stucki profitiere dann und wann vom Gesetz der Schwerkraft. Erneut am «Mittelländischen», dieses Mal im Weiler Habstetten, könnten sich ihre Wege kreuzen. Im Anschwingen trifft der Seeländer auf Kilian Wenger, Orlik kriegt es mit Remo Käser zu tun (siehe Kasten). Ein Festsieg im Bernbiet fehlt ihm, die Bedeutung der drei Erfolge im Südwestschweizer Teilverband weiss er aufgrund der eher bescheidenen Besetzung richtig einzuschätzen. Die Prophezeiung von Schwingerkönig Matthias Glarner, Orlik werde als einer der Leader im Berner Team ans «Eidgenössische» 2019 nach Zug reisen, passt zur Einstellung des einstigen Judoka. Er sagt: «Ich fange gerade erst richtig an.»

Vielleicht nicht gerade ein schlampiges Genie war Curdin Orlik, aber er trainierte lange nicht seriös genug, galt als Bruder Leichtfuss. Es ging stets vorwärts als Jungschwinger, aber dann: Kreuzbandriss, Meniskusschaden, nicht nur die Saisons 2011 und 2012 gingen wegen Komplikationen verloren, sondern, viel schlimmer noch, auch die Freude. Erst Honigmassagen und Chabiswickel einer Naturheilpraktikerin sorgten für Linderung, und das Aha-Erlebnis folgte später in Estavayer. «So konnte es nicht weitergehen», sagt Orlik, «mit dem Aufwand von damals wäre ich immer Mittelmass geblieben.» Bis vor gut einem Jahr trainierte er im Kraftraum ins Blaue hinaus. Den Aufwand hat er signifikant erhöht, er hat sich in einen Spitzensportler verwandelt. Mit ihm sei zu rechnen. Er meint: «Ich bin nicht einfach der andere Orlik.»

«MITTELLÄNDISCHES»

So richtig los geht das Schwingerjahr 2018 aus Berner Sicht am Sonntag mit dem «Mittelländischen» in Habstetten, wo der dreifache Schwingerkönig Rudolf Hunsperger aufwuchs. Königlich ist die Besetzung am ersten Gauverbandsfest der Saison: Mit Matthias Sempach und Kilian Wenger sind die Sieger des «Eidgenössischen» von 2013 respektive 2010 gemeldet. Auch Unspunnen-Champion Christian Stucki, welcher das «Mittelländische» vor Jahresfrist für sich entschied, sowie acht weitere «Eidgenossen» haben sich eingeschrieben. Der bekannteste Gast ist Roger Rychen, der Glarner belegte 2016 in Estavayer Rang 12. Das Anschwingen beginnt um 8.15 Uhr, der Schlussgang ist für circa 17 Uhr vorgesehen. Auf www.bernerzeitung.ch wird ein umfassender Liveticker mit Interviews ersichtlich sein. phr

Spitzenpaarungen 1. Gang: Christian Stucki Kilian Wenger. Matthias Sempach Florian Gnägi. Willy Graber Roger Rychen. Philipp Roth Matthias Aeschbacher. Remo Käser Curdin Orlik. Philipp Reusser Ruedi Roschi.


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Erstellt: 04.05.2018
Geändert: 04.05.2018
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