Schwingen - Die Verbundenheit steht über der Vernunft

Die Organisatoren des «Mittelländischen» vom Sonntag dürfen zur Überraschung vieler auf die Unterstützung ihres Aushängeschilds zählen: Der 30-jährige Bolliger Willy Graber tritt trotz Kreuzbandriss in Richigen an.

Reto Kirchhofer, Berner Zeitung BZ

Die erste Frage erledigt sich, ehe sie gestellt wird. «Ich bin gerade auf dem Dach – in ziemlicher Höhe», sagt Willy Graber, «können wir später sprechen?» Somit ist rasch klar: Der 30-Jährige kann seiner Arbeit als Dachdecker beschwerdefrei nachgehen. Es handelt sich um keine Selbstverständlichkeit, schliesslich ist Graber dieser Tage gesundheitlich eingeschränkt. Anfang April erlitt der Schwinger während des Trainings am linken Knie einen Kreuzbandriss sowie einen Meniskusschaden. An die Arbeit war vorerst nicht zu denken, geschweige denn ans Schwingen: Graber verkündete sein Saisonende, erklärte, er werde dieses Jahr keine Feste bestreiten können.


Die geglückte Rückkehr


Ende Mai hat sich die Situation gewandelt: Das Kreuzband ist noch immer gerissen, der Meniskus verletzt; Graber aber verspürt keine Schmerzen mehr, verrichtet seinen Beruf ohne Schiene als
Stabilisator – und was am meisten erstaunt: Er schwingt!


Zehn bis zwölf Trainings hat der Bolliger absolviert, am Pfingstmontag zudem das Regionalfest in Laupen bestritten und alle sechs Gänge gewonnen. Deshalb entschied er zum Erstaunen vieler, am Sonntag an seinem Heimfest in Richigen teilzunehmen. «Ich kann schmerzfrei schwingen», sagt Graber. Dies sei ein Grund, weshalb er beim «Mittelländischen» ins Sägemehl steigen werde. «Ich habe zwei Jahre in Richigen gewohnt, bin mit der Ortschaft verbunden. Zudem kenne ich den OK-Präsidenten gut – und mein Schwingklub Worblental ist ein Trägerverein des Fests.»

Dass auch sein Status – Graber ist das Aushängeschild der Mittelländer – bei der Entscheidungsfindung eine Rolle gespielt habe, stellt der 30-jährige Familienvater in Abrede. Er müsse niemandem etwas beweisen – «ich schwinge, weil ich schwingen will».


Die Gefahren der Teilnahme


Die Teilnahme in Richigen birgt für den Athleten durchaus Gefahren. Wegen seiner gleichsam aktiven wie attraktiven Schwingweise am Boden wird das lädierte Knie einer hohen Belastung ausgesetzt. Die Verletzung könnte sich verschlimmern, ein Knorpelschaden entstehen, ein Seitenband reissen.

Was, wenn der Auftritt am «Mittelländischen» gar die Vorbereitung auf das nächste Jahr mit dem «Eidgenössischen» als Höhepunkt beeinträchtigen wird? Graber sagt, Arzt und Physiotherapeut hätten ihm gesagt: Wäre er vernünftig, würde er nicht schwingen. «Aber dank meiner guten Muskulatur kann ich vieles kompensieren. Und man muss auch nicht immer gleich mit dem Schlimmsten rechnen.»


Die Operation im Juli


Willy Graber ist keiner, der sich zu viele Sorgen macht, zu viel hin und her überlegt – er nimmt die Herausforderungen, wie sie kommen. Deshalb erstaunt auch seine Antwort auf die Frage nach der Zielsetzung für Sonntag nicht: «Einen Gegner nach dem anderen nehmen – und dann auf das Notenblatt schauen.»

Das «Mittelländische» wird mit Sicherheit Grabers erstes und zugleich letztes Kranzfest des Jahres sein. Im Juli erfolgt die fällige Operation, verbunden mit einer mehrmonatigen Pause. Hoch hinaus wird es für den schweizweiten Publikumsliebling dannzumal ausschliesslich im Beruf gehen.


«Mittelländisches» in Richigen
 
Vier Schwinger stehen am Sonntag beim Mittelländischen Schwingfest in Richigen unter spezieller Beobachtung: Willy Graber tritt trotz Kreuzbandriss und Meniskusschaden an. Christian Stucki gibt nach Ellbogenbeschwerden sein Comeback. Thomas Zaugg kann sich seinen 100. Kranz sichern. Und aus der Reihe der Gästeschwinger ragt Martin Grab heraus. Der Innerschweizer aus Rothenthurm (35) zählt seit Jahren zu den populärsten Schwingern. Er gab Ende April nach eineinhalbjähriger Verletzungspause (Knieprobleme) sein Comeback und wird sich der Berner Elite stellen.

Grab trifft im Anschwingen (ab 8.15 Uhr) auf Graber; Stucki misst sich mit Schwingerkönig Kilian Wenger. Thomas Zaugg trifft auf Matthias Glarner, den Sieger des «Oberaargauischen» vom Pfingstsamstag. Der Schlussgang ist auf 16.30 Uhr angesetzt. Auf www.bernerzeitung.ch kann der Festverlauf per Liveticker verfolgt werden.

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Erstellt: 30.05.2015
Geändert: 30.05.2015
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