Rüfenacht - Ein Vorort blutet aus
Ist Rüfenacht dem Niedergang geweiht? Die Oberstufe soll nach Worb verlegt und das Kirchgemeindehaus womöglich abgerissen werden, zudem klafft am Dorfeingang eine «Narbe». Es besteht aber Hoffnung auf Besserung.
Mittwochabend, Schulanlage Rüfenacht. In der Turnhalle ist die Konzertbestuhlung aufgestellt. Der Gemeinderat hat zu einem öffentlichen Orientierungsanlass geladen. Über 50 Personen haben Platz genommen und hören zu, wie der für die Bildung zuständige Gemeinderat Christoph Moser (SP) referiert. Der Mann mit dem schwarzen Hemd und dem weissen Jackett erklärt, warum die Oberstufe in Rüfenacht geschlossen und nach Worb verlegt werden soll.
Es ist kein einfacher Auftritt. Im Publikum ist viel Skepsis spürbar. Lehrer sorgen sich um ihre Stelle, Eltern um die Sicherheit ihrer Kinder auf dem Schulweg, der künftig den Hügel hinunter in den Worbboden führen soll. «Ist es richtig, wenn ich morgen meinen Schülern sage, ein Teil von Worb werde künftig alles haben, in einem anderen werde nichts mehr sein wie bisher?», fragt ein Lehrer. Moser und die anderen Gemeinderäte, die ihn flankieren, bejahen dies. Ein anderer Lehrer sagt: «Rüfenacht verliert enorm viel, wenn es die Oberstufe verliert.»
In der Diskussion über die Verlegung der Oberstufe geht es aber um mehr als nur um eine Schule. Es geht um die Identität eines ganzen Dorfes.
Kirche am schönsten Fleck
Rüfenacht könnte nämlich noch mehr verlieren. Die Kirchgemeinde überlegt sich derzeit, das Kirchgemeindehaus Sperlisacher abzureissen. Ihr fehlt das Geld für eine Sanierung und den Weiterbetrieb des in die Jahre gekommenen Gebäudekomplexes. Dort oben auf der Anhöhe, mit Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau, liessen sich gegen gutes Geld Luxuswohnungen bauen. Doch es regt sich Widerstand. Eine Gruppe will den Abriss verhindern. Sie sammelt Unterschriften für eine Gemeindeinitiative. Darin fordert sie, dass sich die Gemeinde künftig am Betrieb des Kirchgemeindehauses beteiligt und so mithilft, dieses zu retten.
Mittlerweile sind schon fast doppelt so viele Unterschriften zusammen, wie benötigt werden. «Rüfenacht darf kulturell nicht vernachlässigt werden», sagt René Bauer, Präsident des Worber Seniorenvereins und Mitglied des Initiativkomitees. Im Kirchgemeindehaus ist nämlich nicht nur die Kirche zu Hause. Im grossen Saal halten Vereine Theater, Konzerte und Versammlungen ab. Im Weiteren ist die Tagesschule eingemietet. Kochklubs treffen sich, und Yoga-Kurse werden durchgeführt. «Wenn das Kirchgemeindehaus stirbt, ist Rüfenacht nur noch der Schlafteil von Worb», sagt Bauer, der früher für die SP im Gemeindeparlament sass.
Geplatzte Träume
Vor 60 Jahren noch war Rüfenacht ein kleines Bauerndorf. Dann setzte der Bauboom ein. Bis zu Beginn der 1980er-Jahre stieg die Zahl der Einwohner auf über 4000. Rüfenacht entwickelte sich zur Agglomerationssiedlung. Am Hang wurden Einfamilienhäuser gebaut, unten, entlang der Bahnlinie und der viel befahrenen Strasse von Bern Richtung Worb und Emmental, Betonblöcke. Als vor 30 Jahren der Bau des Kirchgemeindehauses an die Hand genommen wurde, träumte man von 10 000 Einwohnern. Doch so weit kam es nie.
Lädelisterben und Mieterwechsel
Heute leben rund 3500 Personen im zweitgrössten Teil der Gemeinde Worb. In Worb-Dorf sind es über 6000. Rüfenacht nagt daran, dass die Entwicklung nach den Boomjahren stehen geblieben ist - obwohl nach wie vor neue Überbauungen realisiert werden. Die Metzgerei, die Bäckerei oder die Drogerie sind aber verschwunden. Die meisten Einwohner erledigen ihre Einkäufe ausserhalb des Dorfs. Es gibt noch einen Coop und eine Post, zwei Beizen, gleich mehrere Coiffeursalons oder ein Studio, das Therapien mit Klang und Musik anbietet. Und die alten Blöcke im Unterdorf fristen mittlerweile ein tristes Dasein.
Während früher Bundesangestellte dort wohnten, sind es jetzt vielfach Ausländer, welche von den günstigen Mieten angelockt werden. Hinzu kommt, dass in Rüfenacht ein eigentlicher Ortskern fehlt. Die Wohnquartiere, die tagsüber ausgestorben sind, prägen das Bild. Und den zahlreichen Pendlern aus dem Emmental, die Tag für Tag mit ihren Autos an den hohen Lärmschutzwänden vorbeifahren, fällt vor allem eines auf: die Narbe, die der Brand des Restaurants Sonne vor knapp zwei Jahren im Dorfbild hinterlassen hat.
Vom Schandfleck zur Visitenkarte
Das exponierte Sonnen-Areal vermittelt derzeit eine verwahrloste Hinterhofstimmung. Selbst im Dorf spricht man vom «Schandfleck». Die verbliebenen Fundamente sind von dürrem Unkraut überwuchert. Im hinteren Teil wird Cheminéeholz zum Kauf angeboten, vorne an der Hauptstrasse Occasionsautos. Daneben steht eine weisse Baracke. «Offen» steht auf einer Tafel geschrieben, die von einer Kochpuppe gehalten wird. George und Heidi Reist führen im Container seit einem Jahr eine temporäre Beiz: das Sonnen-Chalet - der Name wirkt in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper. Doch die Beiz laufe gut, sagt Reist. Halb Rüfenacht kehre bei ihm ein - «von den Arbeitern bis zu den Geschäftsherren». Am Nebentisch isst ein Rentner mitten am Nachmittag ein Gnagi. Und Reist ist überzeugt, dass es an diesem Ort dereinst eine «schöne Sache» geben wird - auch wenn seine Baracke dann verschwunden ist. Er spricht damit die Planungen an, die im Gang sind.
Auf dem «Ground Zero» von Rüfenacht soll ein neues Dorfzentrum mit einem Platz entstehen. Dabei ist auch vorgesehen, dass das «Schlössli» - das Jagdschloss aus dem 17. Jahrhundert, welches derzeit vis-à-vis dem Sonnen-Areal hinter einer Hecke versteckt ist - besser zur Geltung kommt. Zudem soll die Hinterhausstrasse, die von der Hauptstrasse her ins Dorf führt, aufgewertet werden.
«Stiefmütterliche Behandlung»
Es wäre Balsam auf die geschundenen Rüfenachter Seelen, wenn das Dorf eine Visitenkarte erhielte - nicht zuletzt, weil man schon lange darauf wartet und innerhalb der Gemeinde einen schweren Stand hat. «Zwischen Rüfenacht und Worb verläuft eine Art Röstigraben», sagt René Bauer. Hans U. Steiner, Präsident des Sperlisacher-Initiativkomitees und ehemaliger GFL-Gemeindeparlamentarier, sagt, Rüfenacht werde «stiefmütterlich» behandelt. «Aber nicht bösartig. In Worb denkt man einfach nicht an uns.» Sie - die Rüfenächtler - müssten sich daher immer wieder wehren.
Schule als Hoffnungsträger
Der Konflikt zwischen den beiden Dörfern ist allerdings nicht ganz neu. «Rüfenacht ist jahrzehntelang ausgebeutet worden. Die Gemeinde hat für unser Dorf nur das gesetzlich Vorgeschriebene gemacht», polterte schon im Jahr 2000 eine Frau aus Rüfenacht an einer öffentlichen Veranstaltung, wie der «Bund» damals berichtete. Sie regte sich darüber auf, dass die Gemeinde mit dem Erlös aus dem Verkauf von Bauland beim Kirchgemeindehaus neues Bauland kaufen wollte, statt in die Infrastruktur zu investieren. «Tut endlich etwas für uns und gebt dem Dorf die Seele zurück», forderte die Frau. Bis heute ist aber nicht viel geschehen - abgesehen vom Feuerwehrmagazin, das seither gebaut wurde.
Im letzten Jahr führte die Gemeinde eine Bevölkerungsbefragung durch. Dabei kam heraus, dass Rüfenacht derjenige Teil der Gemeinde Worb ist, in dem die Leute am wenigsten zufrieden sind. «Mit dem Sonnen-Areal bietet sich nun die Chance, einiges zu verändern», sagt Gemeindepräsident Niklaus Gfeller (EVP), der selber in Rüfenacht wohnt. Die ortsplanerischen Probleme führt er vor allem auf die 1970er-Jahre zurück, als das Dorf in «kürzester Zeit» und «ohne gross zu denken» gebaut worden sei. Er sagt aber auch, dass sich eine Gemeinde nicht zwei Zentren mit der gleichen Infrastruktur leisten könne. Der Mittelpunkt sei nun einmal in Worb. Die Trennung von Worb-Dorf und Rüfenacht sei in den 1990er-Jahren vollzogen worden, als Rüfenacht eine eigene Oberstufe erhalten habe, sagt Gfeller weiter. Zuvor sei es normal gewesen, dass die Rüfenachter die Oberschule in Worb besuchten - so wie es jetzt wieder geplant ist -, und dies habe den Zusammenhalt in der Gemeinde gefördert. Für Gfeller ist das Schulzentralisierungsprojekt daher auch eine Chance, um den Graben zwischen Rüfenacht und Worb wieder zuzuschütten.
Zentralisierung Oberstufe Worb: Volksabstimmung im Mai 2014
Ab dem Schuljahr 2015/16 sollen die Oberschüler aus Rüfenacht im Worbboden-Schulhaus unterrichtet werden. Dies sieht der Worber Gemeinderat vor. Die Zentralisierung der Sekundarstufe 1 sei «möglich und notwendig», steht im Abklärungsbericht geschrieben, der am Mittwochabend im Schulhaus Rüfenacht der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (vergleiche Text unten). Aufgrund von abnehmenden Schülerzahlen müsste ohne Zentralisierung in den nächsten Jahren sowohl in Rüfenacht wie auch im Worbboden je eine Klasse geschlossen werden. An Stelle der Oberstufe will der Gemeinderat zwei Kindergärten und die gesamte Tagesschule neu in die Schulanlage Rüfenacht integrieren. Lehrkräfte sollen keine entlassen werden, wie der für die Bildung zuständige Gemeinderat Christoph Moser (SP) an der Informationsveranstaltung sagte.
Gemäss Experten der Kantonspolizei Bern ist der Schulweg von Rüfenacht hinunter in den Worbboden für die Oberschüler «zumutbar», wie es im Bericht weiter heisst. Dennoch will die Gemeinde gemäss Moser prüfen, ob es Anpassungen im Bereich des Äusseren Staldens braucht - beispielsweise ein Fahrverbot. Durch die Zentralisierung kann die Gemeinde Worb jährlich 209 000 Franken sparen. Allerdings sind auch bauliche Anpassungen in der Schulanlage Rüfenacht vorgesehen, die 2,1 Millionen Franken kosten. Die Vorlage kommt Anfang Februar ins Gemeindeparlament. Am 18. Mai gibt es eine Volksabstimmung.