Rubigen - "Nicht jeder, der dich duzt, ist zum Umarmen"

Behindertenbetreuung zwischen Nähe und Distanz: Eine Tagung in Rubigen sensibilisiert Eltern und Betreuer auf dieses Thema.

Katja Zellweger, Der Bund
«Vermüntschele» und «umarme» - das tut Käthi Rubins erwachsener Sohn gerne. Er hat Trisomie 21, auch Downsyndrom genannt, und lebt in einem Heim. Ein gutes Gespür für Nähe und Distanz fehle bei geistig behinderten Menschen oft, sagt Rubin. Es sei darum zuerst Aufgabe der Eltern, dies in der Erziehung zu vermitteln. Ihrem Sohn hat sie dies anhand von Siezen und Duzen erklärt: «Siezen tust du jemanden, den du nicht viel siehst.» Auch beim Du-Sagen gebe es Unterschiede. «In der Familie kann man ‹müntschele›». Diese Richtlinien funktionieren auch wechselseitig: «Sagt dir jemand Sie, gibst du die Hand.»

«Täterfreundliches Du»

Rubin arbeitet für die Organisation Insieme Kanton Bern, eine schweizweite Vereinigung im Dienste geistig behinderter Menschen. Aus ihrer Arbeit wie aus den Erfahrungen als Mutter eines Behinderten kennt sie die Probleme, die das Du in der institutionellen Betreuung schafft. Einerseits möchten Eltern ein persönliches Umfeld für ihre Kinder: «Ist mein Sohn traurig, soll man ihn nicht aus zwei Metern Distanz trösten.» Andrerseits kann das gegenseitige Duzen im Heim auch Probleme schaffen. Eine Vertrautheit stelle sich ein, die wünschenswert, aber auch «täterfreundlich» sei. Eine Heimbetreuerin sagt dem «Bund», dass die Institutionen stets bemüht seien, Behinderte für dieses Thema zu sensibilisieren. Auch im Team komme es immer wieder zur Sprache. «Jeder Betreuer sollte zu jedem Zeitpunkt seinen Umgang mit den Heimbewohnern rechtfertigen können.» Es sei wichtig, aktiv die Autonomie Behinderter zu unterstützen und sie in ihrem Nein zu bestärken. Grenzen setzen sei aber genauso wichtig. Mit den Eltern müsse auch vereinbart werden, ob Kontakte wie ein tröstendes Küsschen auf die Wange erwünscht seien oder nicht.

Prävention und «Nulltoleranz»

Intimität und Abgrenzung sind ein Dauerthema in der Betreuung, nicht zuletzt seit dem tragischen Missbrauchsfall in der Region, der im Februar 2011 aufgedeckt wurde: Ein Sozialtherapeut hatte während Jahren 114 vorwiegend wehrlose Schwerstbehinderte sexuell missbraucht. Ein Grund für Insieme, sich zu einer Charta zur «Prävention von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und anderen Grenzverletzungen» zu bekennen. Als erster regionaler Verein hat Insieme Kanton Bern die Charta unterschrieben. Dies, weil sie Ferienlager für Behinderte anbietet und die Betreuersuche sorgfältiger durchführen will. Fortan müssen Lagerleiter einen Strafregisterauszug vorlegen - ein wichtiger Teil der «Nulltoleranz-Politik» der Charta, in der auch verbindliche Handlungsstrategien der Institutionen und Heime formuliert sind. Tatsache ist, dass Missbräuche auch unter Heimbewohnern geschehen. Hier müssen Eltern und Betreuer bei Vermutungen intensiv miteinander reden. Das sei nicht immer einfach, sagt Rubin: «Vor allem ältere Eltern würden die Sexualität der behinderten Kinder am liebsten ausblenden.»

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Erstellt: 03.11.2012
Geändert: 03.11.2012
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