Rubigen - In Ninas Universum

Nina Hagen lud zum Bertolt-Brecht-Abend in die Mühle Hunziken. Der ausverkaufte Abend begann zögerlich. Doch wer da war, sollte es nicht bereuen.

Samuel Mumenthaler, Berner Zeitung BZ

Wenn es die Hagen auf die Bühne zieht, beginnt die Vorstellung. Auch wenn das eine Viertelstunde vor dem angekündigten Konzertbeginn ist und ein Teil des Publikums (das 100 Franken Eintritt bezahlte) noch gar nicht da ist. Hier sitzt sie nun entspannt auf einem Schemel, von Kopf bis barem Fuss auf Liebe eingestellt, in einem Outfit zwischen blumiger Folklore und psychedelischen Hippiemustern. Das Singen kann warten. Denn Nina Hagen holt zunächst einmal aus zu einer längeren Liebeserklärung an den Autor Bertolt Brecht, dem sie diesen Abend gewidmet hat. Sie erzählt von ihren ersten Begegnungen mit den Werken des Meisters, über ihre Jugend in Ostberlin, die Flügelkämpfe der Linken und davon, wie Brecht damals ihre Leidenschaft zur Geschichte weckte.

Gebannt wie besorgt

Das Publikum lauscht ihren Schilderungen ebenso gebannt wie besorgt. Denn Frau Hagens Stimme klingt kratzig und heiser, und ist ein Schatten dessen, wofür man die einstige «Godmother of Punk» in Erinnerung hat, als sie im «African Reggae» noch locker fünf Oktaven meisterte.

Das bleibt leider auch so, als sich Nina Hagen zur zackigen Begleitung ihrer verstimmten Stromgitarre ins erste Brecht-Lied stürzt und die Band auf die Bühne bittet, deren Spezialität ein expressionistischer Berliner Blues ist. Hagens eigener Vortrag wirkt noch fahrig, ihre Version von Bob Dylans «The Times They Are A-Changin’» hat ähnlich viel Wiedererkennungswert wie gewisse Liveversionen von Dylan selber.

Was Bob Dylan mit Bert Brecht zu tun hat? Ein «Bruder im Geist», erklärt Nina Hagen. Wie auch zahlreiche andere Musiker und Persönlichkeiten, die sie an diesem Abend zitiert. Sie lädt sie alle zu sich ein, in ihr gemütliches, aber auch etwas spukiges Hagen-Universum. Von dort ist es dann auch nicht mehr weit zur «Heavenly City», wo niemand mehr sterben muss. Dass Jesus ein Freund von Nina ist, ist ja kein Geheimnis.

Je länger der gut zweistündige Auftritt dauert, desto mehr kommt Nina Hagen in Fahrt. Ihre Stimme klingt mit jedem Lied weicher und wandelbarer, die Interpretationen werden frecher und engagierter. Sie blättert scheinbar planlos in ihrem Sammelsurium von Notizen, Collagen und Songtexten. Manchmal weist sie kurz ihre Musiker zurecht, was diese mit stoischem Gleichmut quittieren. Dann erzählt Nina Geschichten über die Wiederentdeckung von Hitlers Zähnen, von den Notgroschen ihrer Mutter Eva Maria (die auch schon in der Mühle Hunziken gastierte) und davon, dass sie mit 63 noch französisch lernt. Das Pariser Chanson scheint es ihr ohnehin angetan zu haben, und in ihrer Version von Edith Piafs «Non, je ne regrette rien» schlägt die Punkvergangenheit so richtig durch. Ein Höhepunkt.

Gospel statt Punk

Wohlweislich gibt es an diesem Abend dennoch keine Hagen-Klassiker zu hören – ein hoffnungsvoller Publikumsruf nach dem «African Reggae» bleibt folgenlos. Stattdessen folgt noch mehr Brecht, aus der «Dreigroschenoper» und «Der gute Mensch von Sezuan», zum Beispiel.

Das Konzert endet offiziell mit dem «Alabama-Song» (aus der Feder von Brechts Musiklieferant Kurt Weill). Doch als der «Moon of Alabama» untergeht, ist das Konzert noch lange nicht fertig.

Am Schluss sitzt Nina Hagen wieder allein mit ihrer Wandergitarre auf dem Stuhl, fordert «Solidarity» und gospelt sich durch «The Saints Go Marchin’ In». Dann entlässt sie das Publikum wieder aus ihrem Universum in die real existierende Welt. Es war ein faszinierender Abend.


Fehler gefunden?
Statistik

Erstellt: 01.06.2018
Geändert: 01.06.2018
Klicks heute:
Klicks total: