Raumplanung/Zersiedelung bremsen: Wer Quartiere verdichten will, braucht eine Engelsgeduld

Bauen im Dorfkern ist das Gebot der Stunde. In der Realität erweist sich dies als Knacknuss. Alec von Graffenried, der für Losinger Marazzi solche Projekte aufgleist, erläutert die Schwierigkeiten an einem Beispiel in Münsingen.

Christoph Aebischer, Berner Zeitung BZ

Rund 50 000 Wohnungen müssen in der Schweiz pro Jahr entstehen, einige Tausend davon im Kanton Bern. Ansonsten droht angesichts des Bevölkerungswachstums Wohnungsnot. Künftig soll weniger auf der grünen Wiese gebaut werden, dafür zunehmend innerhalb der Dörfer und Städte. Das wollen eigentlich alle, niemand heisst Landverschleiss und Zersiedelung gut. Doch in der Realität ist das sogenannte Verdichten eine Knacknuss und gelingt nur mit Engelsgeduld. Der grüne Nationalrat Alec von Graffenried kann ein Lied davon singen. Als Direktor Akquisition beim Baukonzern Losinger Marazzi weiss er, wovon er spricht.

Insel direkt beim Bahnhof

Zum Beispiel in Münsingen: Während das Dorf östlich vom Bahnhof längst urban daherkommt, dümpelt das Areal westlich davon seit langem vor sich hin. Die Gemeinde hat 2010 im Grundsatz beschlossen, dass hier etwas gehen soll. Doch das ist leichter gesagt, als getan. Denn ein Niemandsareal ist der Perimeter natürlich nicht. Ein buntes Sammelsurium von alten Industriebauten, kleineren Häusern, Abstellplätzen für Wohnmobile, ungenutzten Hinterhöfen, ja sogar Wiesen machen den Ort zu einer Insel, in welcher die Zeit langsamer tickt als in der Umgebung.

Sie bietet Nischen für so manche Nutzung. Auf dem Areal befindet sich etwa ein Versammlungslokal einer Freikirche, eine Kinderkrippe, eine Autowerkstätte für Ami-Schlitten, ein Dojo für asiatischen Kampfsport, diverse Ateliers, Büros, ein Pizza-Take-away und die eine oder andere Wohnung. Die in jeder freien Ecke abgestellten Velos aber zeigen, dass sich etwas getan hat in den vergangenen Jahrzehnten rund um die «Insel»: Das Dorf ist heute eine Stadt – auch wenn die Münsinger sich nicht Stadtbewohner nennen mögen. Täglich fahren Hunderte an den Bahnhof und pendeln von hier zur Schule oder zur Arbeit.

19 verschiedene Geschichten

Den Boden der rund 40 000 Quadratmeter grossen «Insel» teilen sich 19 Grundeigentümer auf. Das Spektrum reicht vom Einfamilienhausbesitzer über die Pensionskasse, die ein Gewerbezentrum betreibt, dem traditionsreichen Familienbetrieb bis hin zum Grossverteiler. Jurist Alec von Graffenried kennt sie alle: ihre Geschichte, ihre Pläne und ihre Befürchtungen. «Das Schwierigste ist, eine gemeinsame Agenda hinzukriegen», stellt er nach vier Jahren Begleitung fest. «Jeder Eigentümer hat seine eigenen Pläne und Prioritäten, und die decken sich nicht.» Doch nun ist ihm und der Gemeinde ein entscheidender Schritt vorwärts gelungen: Auf dem nördlichen Teil haben sich 5 Eigentümer bereit erklärt, am gleichen Strick zu ziehen. Ende Jahr verpflichtete die Gemeinde Losinger Marazzi, ein Projekt für das rund 5500 Quadratmeter grosse Teilgebiet zu entwickeln.

Gegenwärtig werden in Workshops Ideen ausgearbeitet. Am 17. März, erläutert Andreas Kägi (FDP) als zuständiger Gemeinderat, wolle er das Parlament über die laufende Planung informieren. Ende Jahr, so hofft Kägi, könnte es dann Stellung zur Überbauungsordnung nehmen. Im Idealfall würde 2018 mit dem Bau begonnen.

Eine Vision, die Sinn macht

Für Kägi steht ausser Frage, dass die Gemeinde profitiert von einer städtebaulichen Entwicklung dieses Areals: Das bestens erschlossene Gelände eigne sich perfekt als Wohngegend für Junge, Singles oder Pensionäre. Gewerbliche Nutzungen gehören für ihn ebenfalls dazu.

Gewissermassen als Nebeneffekt liessen sich lang gehegte Wünsche verwirklichen. Die Erschliessung des Bahnhofs und der Zugang zu den Gleisen könnte verbessert werden, ein Platz wäre möglich und vor allem geordnete Veloabstellgelegenheiten. Trotz all dieser Vorteile, das weiss Kägi, wird es Skeptiker geben. «Es gibt immer Teile in der Bevölkerung, die solchen Projekten kritisch gegenüberstehen. Andere wiederum befürchten Mehrverkehr. Wir müssen solche Einwände ernst nehmen und konstruktive Lösungen aufzeigen können», sagt er. Dennoch ist Kägi zuversichtlich. Zu vieles spreche für eine dichtere Überbauung an diesem Ort.

«Psychologische Barrieren»

Alec von Graffenried ist im konkreten Fall jetzt ebenfalls optimistisch. Bis jetzt hat der doch beträchtliche Aufwand noch nichts abgeworfen für die Firma. Das werde sich bald ändern, ist er überzeugt. Allerdings bleibt beim Profi ein tiefer gründendes Unbehagen zurück: «Wenn dies die Zukunft des Bauens ist, dann brauchen wir künftig Mediatoren und Psychologen statt Architekten», sagt er ernüchtert und ergänzt: «Auf der grünen Wiese ist das Bauen definitiv einfacher.» Nicht etwa die Regelungsdichte sei das Hauptproblem, sondern die schon anwesenden Eigentümer und Nutzer, sagt er – und dies keineswegs abschätzig gemeint. Darum fragt er in einem im September eingereichten Vorstoss den Bundesrat, wie denn das hehre politische Ziel der baulichen Verdichtung umgesetzt werden soll.

Der Schweizerische Baumeisterverband, der eine Siedlungsentwicklung gegen innen mitträgt, sieht dabei vor allem die Gemeinden und die Kantone in der Pflicht. Als Hindernisse ortet er in erster Linie das örtliche Baurecht und «psychologische Barrieren der Betroffenen». Letztlich gehe es darum, diese Barrieren abzubauen und alte Einstellungen zu ändern.


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Erstellt: 21.02.2015
Geändert: 21.02.2015
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