Radprofi Marcel Wyss aus Münsingen: "Die Atmosphäre im Feld ist aggressiver geworden"
Marcel Wyss, Profi aus Münsingen, spricht über den tödlichen Unfall des Belgiers Antoine Demoitié. Der 29-Jährige glaubt, dass sich der zunehmende Stress der Rennfahrer auf die Begleiter überträgt.
Marcel Wyss: Da schiessen dir viele Gedanken durch den Kopf. Du denkst an die Angehörigen, die bei jedem Rennen hoffen, dass nichts passiert, der Fahrer heil ins Ziel kommt. Am Sonntag ist der schlimmste Fall eingetreten. Ebenfalls sehr präsent ist die egoistische Komponente.
Inwiefern?
Es wird dir sofort bewusst, dass es auch dich hätte treffen können. Wirst du Radprofi, setzt du dich hohen Risiken aus – das Schicksal fährt mit.
Sie hatten vergangene Woche Glück. Was ist an der Katalonien-Rundfahrt genau passiert?
Wir fuhren bergab, die Strasse war breit. Ich befand mich am Rand des Feldes, hatte unseren Leader Mathias Frank am Hinterrad, wollte ihn nach vorne bringen. Ein Töff raste viel zu nahe an mir vorbei, touchierte mich am Ellenbogen, und das bei etwa 70 Stundenkilometern. Ich darf gar nicht daran denken, wie der Zwischenfall hätte ausgehen können, wenn ich im falschen Moment eine typische Rennfahrerbewegung gemacht hätte.
An was für Bewegungen denken Sie?
Ich hätte mich zum Beispiel umdrehen können, um zu schauen, ob Mathias noch da ist. Eine derartige Rotation ist immer mit einer minimalen Richtungsänderung verbunden, ganz gerade bleibt der Lenker nie.
Was ging Ihnen bei diesem Vorfall durch den Kopf?
Ich war schockiert, schrie und versuchte sogar einen Moment lang, dem Töff hinterherzufahren. Aber er war natürlich zu schnell.
Hat sich der Motorradfahrer nach der Etappe bei Ihnen gemeldet?
Nein, vermutlich ist den Beteiligten nicht bewusst, wie knapp es war. Hinter dem Fahrer sass ein Rennkommissär. Dieser verwarf die Hände, als er sah, dass ich mich enervierte. Wahrscheinlich hatte keiner der beiden meinen Ellbogen gespürt.
Befinden sich zu viele Begleitmotorräder auf der Strasse?
An den wichtigen Rennen ist es schon krass geworden, da sind sehr viele Fotografentöffs dabei. Das Kernproblem ist aber die Fahrweise. Manchmal bekundet man den Eindruck, die Motorräder würden ebenfalls ein Rennen bestreiten.
Wie erklären Sie sich das?
Der Rennfahrerjob ist in den letzten Jahren stressiger geworden. Ich vermute, dass sich dieser Stress auf die Fahrer der Begleitfahrzeuge überträgt.
Worauf beruht der Stressanstieg?
Es gibt immer mehr Verkehrsinseln, es wird immer hektischer, nervöser. Die Atmosphäre im Feld ist zweifelsohne aggressiver geworden.
Auch wegen des Erfolgsdrucks?
Dieser spielt sicher eine Rolle, er ist deutlich gestiegen.
Ein Fahrer ist wegen eines Begleitmotorrads gestorben, die Istsituation ist unhaltbar. Sehen Sie einen Lösungsansatz?
Vermutlich sind unsere Felder zu gross. Aber wenn man sie kleiner machen würde, gäbe es weniger Teams, und der Erfolgsdruck würde noch stärker werden.