Oberdiessbach - Tierkunde statt Psalmen büffeln
Als nach 1750 auch in Bern die Bemühungen begannen, um die Landwirtschaft zu reformieren, waren die Pfarrer an vorderster Front dabei. Albrecht Stapfer aus Oberdiessbach verfasste eine Schrift «Über die Auferziehung des Landvolks».
Manfred Joss, Wochen-Zeitung
Bern im Jahr 1763: Der mächtigste und reichste Staat der Eidgenossenschaft erstreckte sich nach wie vor vom Genfersee bis an den Rhein. In der Hauptstadt regierten die wenigen mächtigen Patrizier-Familien über ihre Untertanen. Während in Europa gerade der Siebenjährige Krieg zu Ende ging, harrte der Berner Bär unangefochten hinter den dicken Stadtmauern.
Doch die Ruhe täuschte. Im Jahr 1759 hatten ein paar geschäftige Männer die bernische ökonomische Gesellschaft gegründet und sogleich einen enormen Tatendrang an den Tag gelegt. Die Gründer stammten praktisch alle aus Patrizierfamilien, bekleideten jedoch kein Amt in der Regierung. So verschrieben sie sich ihrer privaten Mission: Frischen Wind in die Landwirtschaft zu bringen und sie aus ihren uralten Traditionen zu reissen, zum Wohle der Leute und vor allem auch zum Wohle Berns.
Den Emmentalern gings besser
Einer Revision bedurfte der Landbau in der Tat. Das Erbrecht zerstückelte im Mittelland das Land in winzige Felder und der Dreifelderzyklus ein Jahr Wintergetreide, ein Jahr Sommergetreide, ein Jahr Brache war ineffizient. Auch die meist sumpfigen Allmende und das uneingeschränkte Weiderecht im Herbst schmälerten die Erträge, so dass die paradoxe Situation entstand, dass es den Bauern im fruchtbaren Mittelland schlechter ging als jenen im Emmental. Hier war das Land an einem Stück und blieb dank der Vererbung an den jüngsten Sohn stets so gross, dass es fürs Überleben reichte.
Was galt es zu tun? Die Leute der ökonomischen Gesellschaft verfochten eine radikale Umkehr der über Jahrhunderte gepflegten Traditionen: Das Land sollte eingehegt und zum Teil mit neuen Futterpflanzen wie der Esparsette oder der Lucerne bepflanzt, die Allmende sollten aufgehoben werden. Das Vieh würde nach der neuen Methode im Stall gefüttert, was eine gezielte Düngung der Ackerflächen ermöglichte. Damit stiege letztlich die Getreideproduktion. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil die Kornzehnten die Lebensader der Staatskasse und der Oberschicht waren. Sanken die Erträge, wie sie es seit Jahren langsam aber sicher taten, stand mithin die ganze Wirtschaftsordnung auf dem Spiel.
Die Pfarrer vermittelten
Nun waren die Landleute schon damals nicht dafür bekannt, Neues mit Begeisterung einzuführen, zumal derart Radikales. In dieser Situation kam nun den Pfarrern als Vermittler grosse Bedeutung zu. Viele waren von Haus aus pragmatische, aufgeklärte Naturen und mehr dem weltlichen als dem geistlichen Heil ihrer Schäfchen verpflichtet. In der ökonomischen Gesellschaft bildeten sie das Rückgrat und lieferten aus dem weit verzweigten Staatsgebiet die nötigen Daten, sei es in den «Topographischen Beschreibungen» ihrer Region oder durch Einsendungen auf Preisfragen der Gesellschaft. Eine solche lautete für das Jahr 1763: «Welche ist die beste Auferziehung, so man der Jugend auf dem Lande in absicht auf den Landbau geben kan?» Albrecht Stapfer, Jahrgang 1722 und Diakon in Oberdiessbach, machte sich an die Arbeit nicht zum ersten Mal. Schon bei der allerersten Preisfrage von 1759 «über die Notwendigkeit des Getreydebaus» war er zum Sieger erkoren worden.
Pflanzenkunde statt Psalmen pauken
Albrecht Stapfer qualifizierte den bisherigen Schulunterricht als völlig ungenügend für die Kinder. «Von demjenigen, was ihren künftigen beruf ansieht, und was ihnen in ihrem stande nüzlich seyn und sie dazu tüchtig machen könnte, wird ihnen kein wort gesagt», klagt er. Statt Pflanzen- und Tierkunde würden den zukünftigen Bauern nur unnütze Psalmen zum Auswendiglernen vorgesetzt. Ein Pädagoge durch und durch, will Stapfer nicht nur anderen Stoff im Unterricht, er will auch, dass die Kinder das Gelernte «aus Gründen» nachvollziehen, nicht nur oberflächlich. Insofern ist Albrecht Stapfer ein Verfechter der sogenannten Volksaufklärung, jener Bewegung, die dem breiten Volk zu Wissen und eigenständigem Denken verhelfen wollte. Doch Stapfer war alles andere als ein Liberaler: Wer als Kind eines Bauern geboren wurde, besonders als Sohn, war von Gott in diesen Stand versetzt worden und hatte die Pflicht, ein guter Landmann zu werden. Alles andere war Frevel gegen Gott und Obrigkeit. Kinder, deren Väter zur richtigen Erziehung ihres Nachwuchses nicht fähig oder Willens waren, sollten deshalb kurzerhand verdingt werden.
Fortschrittlich und konservativ zugleich
Über manche Entwicklung wütet der Oberdiessbacher Diakon kräftig. So betrachtete er etwa die Ausbreitung der Heimarbeit gar als unerhörte Verweichlichung und die Arbeit mit Textilem als eines Landmannes unwürdig. Ein rechter Bauer hatte sich mit Leib und Seele dem Anbau von Getreide zu widmen, notfalls der Viehzucht, wo das Klima keine Wahl liess. Arbeit musste nach Albrecht Stapfer stets schnell, genau und rational geleistet werden. Nichts brachte ihn mehr in Rage als der Müssiggang; für den eifrigen Gottesmann galt das Nichtstun als Zeichen des Ungehorsams und der Revolte.
Höhere Erträge dank Fleiss
Stapfers Bemühungen zur besseren Erziehung standen ganz im Dienst höherer Erträge und wirtschaftlichen Fortschritts. In der frühen Erziehung der Kinder zu sinnvoller Arbeit in einer modernisierten Landwirtschaft sah er wohl zurecht den Schlüssel, seine Form des Landbaus durchzusetzen. Aber es war ein konservativer Fortschritt, einer, der im Rahmen der geltenden Ordnung zu geschehen hatte. Wer sich über seinen Stand erhob und etwa als Bauer seine neu erlernten Schreibkünste für etwas anderes als die bessere Führung seines Betriebs verwenden wollte, traf auf den scharfen Widerspruch Stapfers. Er mokierte sich über die faulen viehzüchtenden Oberländer, und über den Emmentaler schreibt er, er solle in jungen Jahren mehr ins Mittelland reisen: «und wenn er in diesen gegenden nichts anderes lernte als die arbeitsamkeit, welche in seiner gegend nicht sonderlich mode ist, so würde dieses ihm schon zu einem grossen vorhteile dienen.» Ein Landmann hat zu arbeiten und zu schweigen.
Kritik an Untertanen ist einfacher
Sehr zahm bleibt Albrecht Stapfer, wenn es darum ginge, die Obrigkeit für gewisse Missstände zu kritisieren. Schliesslich ist der Bauer Untertan und in seinen Entscheidungen längst nicht durchwegs frei. Aber Stapfer ist selbst Profiteur der herrschenden Ordnung. Als Pfarrer ist er vom Staat bestellt und bezahlt, seine Familie ist in Bern nicht ohne Einfluss. Deshalb ist es naheliegend, dass Stapfer lieber versucht, die Leute zu besseren Rädchen in der herrschenden Mechanik zu machen, als die Mechanik als solche zu hinterfragen.
Unzimperliche Ratschläge
Nicht nur das moralische, auch das körperliche Wohlergehen der Landkinder lag Albrecht Stapfer am Herzen. Die beste Methode für die Stärkung des Nachwuchses sah er in der Abhärtung: Nicht zu warme Kleidung, keine warmen und weichen Federbetten
Unzimperlich auch ein Rat Albrecht Stapfers an die Eltern, wenn die Kinder in ein «ausgelassenes Alter» kommen: «Verbietet euren söhnen alles nächtliche umherschweifen, und verhütet sie in euren häusern.» Denn die Folgen des nächtlichen Kiltgangs sind einem tugendhaften Pfarrer ein Greuel: Unglückliche Ehen ohne Auskommen und ein Land, das «mit bastarten angefüllet wird».
www.wochen-zeitung.ch
www.oberdiessbach.ch
Doch die Ruhe täuschte. Im Jahr 1759 hatten ein paar geschäftige Männer die bernische ökonomische Gesellschaft gegründet und sogleich einen enormen Tatendrang an den Tag gelegt. Die Gründer stammten praktisch alle aus Patrizierfamilien, bekleideten jedoch kein Amt in der Regierung. So verschrieben sie sich ihrer privaten Mission: Frischen Wind in die Landwirtschaft zu bringen und sie aus ihren uralten Traditionen zu reissen, zum Wohle der Leute und vor allem auch zum Wohle Berns.
Den Emmentalern gings besser
Einer Revision bedurfte der Landbau in der Tat. Das Erbrecht zerstückelte im Mittelland das Land in winzige Felder und der Dreifelderzyklus ein Jahr Wintergetreide, ein Jahr Sommergetreide, ein Jahr Brache war ineffizient. Auch die meist sumpfigen Allmende und das uneingeschränkte Weiderecht im Herbst schmälerten die Erträge, so dass die paradoxe Situation entstand, dass es den Bauern im fruchtbaren Mittelland schlechter ging als jenen im Emmental. Hier war das Land an einem Stück und blieb dank der Vererbung an den jüngsten Sohn stets so gross, dass es fürs Überleben reichte.
Was galt es zu tun? Die Leute der ökonomischen Gesellschaft verfochten eine radikale Umkehr der über Jahrhunderte gepflegten Traditionen: Das Land sollte eingehegt und zum Teil mit neuen Futterpflanzen wie der Esparsette oder der Lucerne bepflanzt, die Allmende sollten aufgehoben werden. Das Vieh würde nach der neuen Methode im Stall gefüttert, was eine gezielte Düngung der Ackerflächen ermöglichte. Damit stiege letztlich die Getreideproduktion. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil die Kornzehnten die Lebensader der Staatskasse und der Oberschicht waren. Sanken die Erträge, wie sie es seit Jahren langsam aber sicher taten, stand mithin die ganze Wirtschaftsordnung auf dem Spiel.
Die Pfarrer vermittelten
Nun waren die Landleute schon damals nicht dafür bekannt, Neues mit Begeisterung einzuführen, zumal derart Radikales. In dieser Situation kam nun den Pfarrern als Vermittler grosse Bedeutung zu. Viele waren von Haus aus pragmatische, aufgeklärte Naturen und mehr dem weltlichen als dem geistlichen Heil ihrer Schäfchen verpflichtet. In der ökonomischen Gesellschaft bildeten sie das Rückgrat und lieferten aus dem weit verzweigten Staatsgebiet die nötigen Daten, sei es in den «Topographischen Beschreibungen» ihrer Region oder durch Einsendungen auf Preisfragen der Gesellschaft. Eine solche lautete für das Jahr 1763: «Welche ist die beste Auferziehung, so man der Jugend auf dem Lande in absicht auf den Landbau geben kan?» Albrecht Stapfer, Jahrgang 1722 und Diakon in Oberdiessbach, machte sich an die Arbeit nicht zum ersten Mal. Schon bei der allerersten Preisfrage von 1759 «über die Notwendigkeit des Getreydebaus» war er zum Sieger erkoren worden.
Pflanzenkunde statt Psalmen pauken
Albrecht Stapfer qualifizierte den bisherigen Schulunterricht als völlig ungenügend für die Kinder. «Von demjenigen, was ihren künftigen beruf ansieht, und was ihnen in ihrem stande nüzlich seyn und sie dazu tüchtig machen könnte, wird ihnen kein wort gesagt», klagt er. Statt Pflanzen- und Tierkunde würden den zukünftigen Bauern nur unnütze Psalmen zum Auswendiglernen vorgesetzt. Ein Pädagoge durch und durch, will Stapfer nicht nur anderen Stoff im Unterricht, er will auch, dass die Kinder das Gelernte «aus Gründen» nachvollziehen, nicht nur oberflächlich. Insofern ist Albrecht Stapfer ein Verfechter der sogenannten Volksaufklärung, jener Bewegung, die dem breiten Volk zu Wissen und eigenständigem Denken verhelfen wollte. Doch Stapfer war alles andere als ein Liberaler: Wer als Kind eines Bauern geboren wurde, besonders als Sohn, war von Gott in diesen Stand versetzt worden und hatte die Pflicht, ein guter Landmann zu werden. Alles andere war Frevel gegen Gott und Obrigkeit. Kinder, deren Väter zur richtigen Erziehung ihres Nachwuchses nicht fähig oder Willens waren, sollten deshalb kurzerhand verdingt werden.
Fortschrittlich und konservativ zugleich
Über manche Entwicklung wütet der Oberdiessbacher Diakon kräftig. So betrachtete er etwa die Ausbreitung der Heimarbeit gar als unerhörte Verweichlichung und die Arbeit mit Textilem als eines Landmannes unwürdig. Ein rechter Bauer hatte sich mit Leib und Seele dem Anbau von Getreide zu widmen, notfalls der Viehzucht, wo das Klima keine Wahl liess. Arbeit musste nach Albrecht Stapfer stets schnell, genau und rational geleistet werden. Nichts brachte ihn mehr in Rage als der Müssiggang; für den eifrigen Gottesmann galt das Nichtstun als Zeichen des Ungehorsams und der Revolte.
Höhere Erträge dank Fleiss
Stapfers Bemühungen zur besseren Erziehung standen ganz im Dienst höherer Erträge und wirtschaftlichen Fortschritts. In der frühen Erziehung der Kinder zu sinnvoller Arbeit in einer modernisierten Landwirtschaft sah er wohl zurecht den Schlüssel, seine Form des Landbaus durchzusetzen. Aber es war ein konservativer Fortschritt, einer, der im Rahmen der geltenden Ordnung zu geschehen hatte. Wer sich über seinen Stand erhob und etwa als Bauer seine neu erlernten Schreibkünste für etwas anderes als die bessere Führung seines Betriebs verwenden wollte, traf auf den scharfen Widerspruch Stapfers. Er mokierte sich über die faulen viehzüchtenden Oberländer, und über den Emmentaler schreibt er, er solle in jungen Jahren mehr ins Mittelland reisen: «und wenn er in diesen gegenden nichts anderes lernte als die arbeitsamkeit, welche in seiner gegend nicht sonderlich mode ist, so würde dieses ihm schon zu einem grossen vorhteile dienen.» Ein Landmann hat zu arbeiten und zu schweigen.
Kritik an Untertanen ist einfacher
Sehr zahm bleibt Albrecht Stapfer, wenn es darum ginge, die Obrigkeit für gewisse Missstände zu kritisieren. Schliesslich ist der Bauer Untertan und in seinen Entscheidungen längst nicht durchwegs frei. Aber Stapfer ist selbst Profiteur der herrschenden Ordnung. Als Pfarrer ist er vom Staat bestellt und bezahlt, seine Familie ist in Bern nicht ohne Einfluss. Deshalb ist es naheliegend, dass Stapfer lieber versucht, die Leute zu besseren Rädchen in der herrschenden Mechanik zu machen, als die Mechanik als solche zu hinterfragen.
Unzimperliche Ratschläge
Nicht nur das moralische, auch das körperliche Wohlergehen der Landkinder lag Albrecht Stapfer am Herzen. Die beste Methode für die Stärkung des Nachwuchses sah er in der Abhärtung: Nicht zu warme Kleidung, keine warmen und weichen Federbetten
Unzimperlich auch ein Rat Albrecht Stapfers an die Eltern, wenn die Kinder in ein «ausgelassenes Alter» kommen: «Verbietet euren söhnen alles nächtliche umherschweifen, und verhütet sie in euren häusern.» Denn die Folgen des nächtlichen Kiltgangs sind einem tugendhaften Pfarrer ein Greuel: Unglückliche Ehen ohne Auskommen und ein Land, das «mit bastarten angefüllet wird».
www.wochen-zeitung.ch
www.oberdiessbach.ch