Oberdiessbach - In der Not der Seele sorgen

«Oft geht es einfach darum, da zu bleiben und nicht wegzusehen, wenn Schreckliches passiert ist», sagte Pfarrer Hans Zaugg, Oberdiessbach. Er berichtete an der Hauptversammung des Dorfvereins über seine Ausbildung und die Arbeit als Notfall

Andreas Anderegg, Wochen-Zeitung
Der Notfallseelsorger leistet erste Hilfe für die Seele in Not. Seelsorge mit Blaulicht. Diese Art der Seelsorge gehört heute zu den Aufgaben der Kirche. Sie ist eine Spezialität im Pfarramt. Das Bedürfnis nach einer Notfallseelsorge zeigte sich erstmals in Deutschland nach dem Eisenbahnunglück von Eschede 1998. Das Entsetzen über die Toten und Verletzten überforderte und lähmte die nicht ausgebildeten Rettungskräfte. Sie konnten die psychische Belastungen nicht auffangen. Nur wenig später beriet der bernische Grosse Rat ein Gesetz über die Hilfe in ausserordentlichen Lagen und beschloss Seelsorge in Notfällen sicherzustellen.

Zweitbelastung

Ausbildung und Einsatz als Notfallseelsorge ist freiwillig und muss neben dem Pfarramt geleistet werden, ähnlich wie der Militärdienst. Der Kirchgemeinderat und die Pfarrkollegen müssen wegen der zusätzlichen Belastung einverstanden sein. Nach dem strengen Grundkurs mit Abschlussprüfung gibt es einen jährlich weiterbildenden Kurs sowie alle zwei bis drei Jahre eine grosse Übung.
Die Notfallseelsorge im Kanton Bern ist dem Amt für Bevölkerungsschutz, Sport und Militär unterstellt und regional nach Landesteilen organisiert. Der Oberdiessbacher Pfarrer, Hans Zaugg, amtet als Einsatzleiter für die Region Bern-Mittelland.

Die Fassung zurückgeben

«Die Notfallseelsorge befreit die Polizei, die Sanität, die Feuerwehr oder andere Rettungskräfte von einer Aufgabe, für die sie nur wenig ausgebildet sind», erklärt Hans Zaugg. «Grosseinsätze wie beim Eisenbahnunglück in Bern-Weissenbühl oder beim Hochwasserunglück im Saxetenbach sind glücklicherweise selten. Aber für den einzelnen Betroffenen ist auch ein schwerer Verkehrsunfall oder ein Familiendrama eine Katastrophe», berichtete der Pfarrer weiter.

Kennzeichnend für den Notfall: Die Überraschung des Ereignisses und der lähmende Schrecken, der die Betroffenen verwirrt und ihnen die Orientierung raubt. Die Notfallseelsorge als Hilfe von aussen soll den Betroffenen ihre Fassung und die Handlungsfähigkeit zurückgeben.
Der Notfallseelsorger müsse diskret und unauffällig mitmenschliche Beziehungen schaffen. Er unterstehe der Schweigepflicht und geniesse ein Zeugnisverweigerungs- recht. Dies sei für die Schaffung von Vertrauen wichtig, weiss Hans Zaugg. Oft sei es aber nötig, einfach da zu sein und nicht wegzuschauen, wenn Schreckliches geschehe und Menschen die Fassung verlören. Diese Hilfe erfordere die Präsenz der ganzen Persönlichkeit: einfach, echt und vertrauenserweckend. Mission sei in solchen Situationen nicht gefragt. Vielmehr brauche es ganz einfache Handlungen: etwas zu Essen oder zu Trinken reichen, vielleicht auch eine Kerze anzünden. Es gehe mehr um das Zuhören als um das Reden, sagt Zaugg. Man müsse selber spüren, wann ein Gebet oder eine Segnung am Platz sei.

Grenzen und Gefahren

Der Notfallseelsorger gehört zum Rettungsteam. Sein Einsatz ist eher kurz und begrenzt. Eine Ablösung erfolgt in der Regel nach drei bis fünf Stunden. Für den Seelsorger selber ist wichtig, das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz zu finden – der Situation angepasst. Die Möglichkeit mit Fachleuten über die Arbeit sprechen zu können, sei für die Verarbeitung solcher Erlebnisse sehr hilfreich, sagt Hans Zaugg. Ihm habe die Ausbildung zum Notfallseelsorger sehr viel gebracht. Die Einsätze seien zwar belastend, aber auch sehr lehrreich, berichet Pfarrer Hans Zaugg. Er ziehe aus dieser freiwilligen Arbeit viel persönlichen Gewinn und berufliche Erfahrung. Solange er die nötige Kraft habe und sich verfügbar machen kann, will er seinen Zusatzauftrag als Notfallseelsorger weiter wahrnehmen.

www.wochen-zeitung.ch
www.oberdiessbach.ch

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Erstellt: 15.05.2003
Geändert: 15.05.2003
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