Niederhünigen - Im Strassenstaub schärfte er die Sinne
Er wurde in Kambodscha verschleppt, fand später in Deutschland die zweite und in der Schweiz die dritte Heimat. Heute hat sich Red Ernst mit dem Leben versöhnt: «Ich hatte viel Glück.»
Sein Alter? Red Ernst lächelt. Am 2. November werde er offiziell den 46. Geburtstag feiern, sagt er. Offiziell, «denn bei uns gab es nichts in der Art eines Familienbuches. Wenn ein Kind geboren wurde, war es einfach da.»
Bei uns: Das war damals, gegen Ende der 1960er-Jahre, in Kambodscha. Red Ernst lebte mit Eltern und Geschwistern in einfachsten Verhältnissen draussen auf dem Land, «wir waren Halbnomaden, kannten weder Strom noch fliessendes Wasser». Sein Geburtsdatum wurde erst Jahre später bei den Adoptiveltern in Deutschland bestimmt. Er wurde ausführlich begutachtet, und der zuständige Arzt schätzte seinen Jahrgang zuerst auf 1970 – «ich war ja noch so klein und mager». Erst eine Knochenanalyse führte zum Jahrgang 1968.
Mit dem genauen Datum war es auch so eine Sache. Die neue Mutter schlug erst den 2. Juli vor, «weil dann Sommer ist und ich gemeinsam mit den anderen Kindern draussen würde feiern können». Allein die Behörden legten den 2. November fest, «warum, weiss ich auch nicht so genau».
Ein bewegender Moment
Am Sonntag wird das Schweizer Fernsehen die Geschichte von Red Ernst erzählen. Es ist die Geschichte eines Kambodschaners, der als 8- oder 9-Jähriger von den berüchtigten Roten Khmer verschleppt wird, später über Thailand nach Deutschland zu neuen Eltern findet und zu guter Letzt in der Schweiz seine eigene Familie gründet. Auf dem elterlichen Bauernhof seiner Frau in Niederhünigen bei Konolfingen.
Vor sechs Jahren geschah Entscheidendes im Leben von Red Ernst. Nach langem Suchen hatte er über Mittelsleute endlich seine Familie in Kambodscha gefunden. Nun wollte er zum grossen Wiedersehen in die alte Heimat reisen. Die Kamera sollte den bewegenden Moment für das Fernsehpublikum festhalten.
Wobei Red Ernst betont: Auch nach diesem Besuch fühlt er sich den neuen Eltern in Deutschland unverändert eng verbunden. Die Familie in Kambodscha dagegen ist ihm fremd geworden – ungeachtet aller Emotionen, die beim ersten Zusammentreffen nach so langer Ungewissheit auf beiden Seiten im Spiel waren.
Die Stadt lockt
Jetzt berichtet Red Ernst davon, wie er in die Fänge der Roten Khmer geriet. Es fing alles ganz harmlos mit einer Reise zum Onkel in die Hauptstadt Phnom Penh an, um die er daheim schon so lange gebettelt hatte. Schliesslich wollte er all die wunderbaren Dinge einer Stadt einmal mit eigenen Augen sehen, den Strom zum Beispiel und eben auch das fliessende Wasser.
Nicht zu verachten war weiter die Aussicht, mit dem Onkel, der gerade zu Besuch auf dem Land weilte, auf der ebenso wunderbaren Vespa einen Tag lang unterwegs sein zu können.
Im Nahkampf trainiert
Zufällig marschierten just in den folgenden Tagen die Truppen der Roten Khmer in die Stadt ein. Sie verhafteten den Onkel und brachten den Kleinen in ein Erziehungslager, wo er zu einem Kämpfer für den geplanten kommunistischen Bauernstaat werden sollte. Zu gut erinnert sich Red Ernst an die Nahkampfübungen, die er regelmässig zu absolvieren hatte. Sie hinterliessen blaue Flecken oder gar Wunden, «zum Glück kam ich ums Schiessen herum».
Von Hotel zu Hotel
Viele Monate später – «ich hatte das Zeitgefühl völlig verloren» – rückten nämlich die von vielen als Befreier begrüssten Vietnamesen näher. Red Ernst schlug sich mit seinen Leidensgenossen nach Thailand durch, Hunger, Krankheiten und Schüsse waren seine ständigen Begleiter. Jenseits der Grenze kam er in einem Flüchtlingscamp unter. Völlig auf sich allein gestellt, lebte er dort mehr oder weniger auf der Strasse – bis er dem Deutschen Roten Kreuz auffiel und seine Reise ins neue Leben antreten konnte. Im Alter von etwa 11 Jahren...
«Ich hatte so viel Glück», zieht Red Ernst Bilanz über sein bisheriges Leben. Er sagt dies mit Blick darauf, dass er nach der Schulzeit in Deutschland einen Beruf lernen konnte, der ihm lag. Er wurde Koch, «weil sich bei uns in Kambodscha immer alles ums Essen dreht», reiste später von Hotel zu Hotel, arbeitete sich Stufe um Stufe hoch.
Auf der Suche nach renommierten Arbeitgebern landete er in der Schweiz, wo er, das zweite Glück, seine Frau kennen lernte. In ihrem Umfeld, seiner mittlerweile dritten Heimat, fühlte er sich sofort wohl. «Das Dorf hat mich sehr gut aufgenommen.»
Schatten aufs Leben
Ob die derart belastete Vergangenheit wirklich keinen Schatten mehr auf sein heutiges Leben wirft? «Ich lerne damit umzugehen. Es gelingt mir immer besser.»
[i] Der verlorene Sohn
21. September, 21.40 Uhr, in der Sendereihe «Reporter».