Münsinger Martin Woodtli: "Da spürte ich, es entsteht etwas"
Der 53-jährige gebürtige Münsinger führt in der Nähe von Chiang Mai in Thailand ein pionierhaftes Pflegezentrum für Demenzkranke.
Zäune gibt es im Dorf Fahan in Thailand keine. «Die Gäste aus der Schweiz, Deutschland und Österreich schlendern schon am Morgen zum Frühstück durch das Dorf und treffen auch auf andere Dorfbewohner», erzählt Martin Woodtli. Mit «Gäste» meint er nicht Touristen, sondern die demenzkranken Menschen im Pflegezentrum «Baan Kamlangchay», das er vor rund zehn Jahren in Thailand gegründet hat. Er nennt sie bewusst Gäste und wehrt sich auch gegen den Begriff «Pflegeheim». Ein klassisches Pflegeheim ist Baan Kamlangchay in der Nähe von Chiang Mai gewiss nicht.
Die Demenzkranken leben jeweils zu zweit in neun Häusern, die im ganzen Dorf verteilt sind. Um jeden Gast kümmern sich Tag und Nacht abwechselnd drei thailändische Betreuerinnen. Auch zum Schlafen legen sie sich neben das Bett ihrer Schützlinge. Durch diese Betreuung rund um die Uhr können sich die Gäste frei bewegen und leben inmitten der Dorfgemeinschaft. Einige von ihnen gehen regelmässig zum Abendessen ins Restaurant, sagt Woodtli. Die Integration im Dorfleben klappe eigentlich recht gut. Manchmal vergessen die Gäste, dass sie in Chiang Mai sind. In ihren Köpfen sind sie noch in ihren Dörfern zu Hause. Etwa eine Frau, die in ihrem Garten zu Hause in «Luzern» plötzlich einen Bananenbaum vorfand. «Kommen Bananen nicht meistens aus Afrika?», fragte sie und lachte.
Er habe nie beabsichtigt, ein Pflegezentrum aufzubauen, sagt Martin Woodtli. Die Geschichte von Baan Kamlangchay beginnt mit Margrit, Martin Woodtlis an Alzheimer erkrankten Mutter. Als sich ihr Gedächtnis zunehmend verschlechterte und sie ihren Ehemann nicht mehr erkannte, nahm sich Martin Woodtlis Vater das Leben. Daraufhin kümmerte sich der Sohn, ein erfahrener Sozialarbeiter, monatelang selbst um die Mutter. Auf der Suche nach einer würdigen und bezahlbaren Betreuung spielte er mit dem Gedanken, nach Chiang Mai zurückzukehren. Dort hatte er bereits vorher während acht Jahren ein Aidsprojekt für Médecins sans Frontières geleitet und wusste, dass es dort gutes und billiges Pflegepersonal gab.
Ende 2002 entschloss er sich, mit seiner Mutter von Münsingen nach Chiang Mai auszuwandern. Er fand, was er für seine Mutter suchte, und blieb mit ihr dort. Um die Pflegekosten zu zahlen, wollte sich Woodtli dort eine Arbeit suchen. Doch als er ein Angebot erhielt, entschied er sich im letzten Moment dagegen. «Ich hatte das Gefühl, ich müsste das auch anderen Leuten ermöglichen», sagte Woodtli. «Da spürte ich, es entsteht etwas. Ich wusste aber noch nicht genau was.»
In den ersten Jahren lebte Woodtli mit seiner Mutter und nur ein paar Gästen wie in einer Wohngemeinschaft. Auch als seine Mutter starb, blieb Woodtli dort. Inzwischen leben in Woodtlis Einrichtung 13 Demenzkranke. Mehr Gäste will Woodtli nicht aufnehmen, weil die Einrichtung klein und familiär bleiben soll. Die Betreuerinnen gehen mit ihren Schützlingen respektvoll und zärtlich um. Händchenhalten, Streicheln und Küsschen zum Abschied würden anderswo als unprofessionell gelten, nicht aber in Thailand. «Mit Krankheiten wie Demenz gehen Thailänder viel gelassener um, und sie haben dabei eine Lockerheit, die uns Schweizern abhandengekommen ist», sagt er.
Nachahmer des Pflegezentrums gibt es bereits auf den Philippinen und an anderen Orten in Thailand. Aber gegenüber diesen grossen Zentren mit etwa 90 Betten ist Woodtli skeptisch. Eine familiäre Atmosphäre sei dort nicht mehr möglich. Er sieht diese Pflegeheime deshalb nicht als Konkurrenz. Die Vorwürfe, dass er ein billiges Pflegeheim anbiete, in das Angehörige ihre Eltern oder Ehepartner abschieben können, hat er trotzdem schon oft gehört. «Günstiger als in der Schweiz ist es natürlich», sagt Woodtli. Zwischen 3500 und 3700 Franken im Monat kostet ein Langzeitaufenthalt.
In der Schweiz ist es je nach Pflege etwa doppelt oder dreimal so teuer. Reich geworden sei er durch sein Nischenangebot nicht, sagt Woodtli, aber leben könne er davon. Seit 21 Jahren lebt er nun in seiner Wahlheimat. In die Schweiz kommt er mit seiner Frau Nid und seinem Sohn Pepino etwa einmal im Jahr. Sein Besuch letzte Woche hatte auch noch einen anderen Grund. Im Stadttheater Bern wird in zwei Jahren ein Musiktheater über Demenz aufgeführt – eine Premiere.
Stadttheater Bern - Demenz als Opernstoff
Im Berner Stadttheater wird in der Saison 2017/18 ein Musiktheater zum Thema Demenz aufgeführt. Dieses Thema kennt man bereits vom Theater, als Opernstoff ist es aber weltweit neu. Als Musiktheater kommt es nun auf die Bühne. Der Text und das Libretto stammen vom Autor und Journalisten Jürgen Berger. Er lernte den Berner Martin Woodtli kennen und besuchte ihn in seinem Pflegezentrum Baan Kamlangchay in Thailand.
Das Musiktheater wird eine Geschichte behandeln, die sich so wirklich in Martin Woodtlis Pflegezentrum zugetragen hat. Es ist eine Liebesgeschichte von zwei Menschen, die in der Schweiz begonnen hat. Jahre später begegnen sich die beiden wieder in Baan Kamlangchay. Zu dieser Zeit sind sie schon an Demenz erkrankt. «Das Stück wird einen guten Einblick in die Demenzkrankheit mit allen tragischen und lustigen Seiten bieten», sagt Woodtli.
Der Regisseur Ludger Engels hatte die Idee, aus «Alzheim» ein Stück für Schauspiel und Musik zu machen. Konzert- und Operndirektor Xavier Zuber entwickelte das Projekt mit Berger und Engels weiter und konnte den Genfer Xavier Dayer dazugewinnen.