Münsingen - Drei Ärzte stehen vor Gericht

Wurde eine Notsituation im Psychiatriezentrum Münsingen zu spät erkannt?

Walter Däpp, Der Bund
Haben eine Ärztin und zwei Ärzte im Psychiatriezentrum Münsingen im März/April 1999 somatische Schmerzen eines schwer psychotischen jungen Patienten falsch diagnostiziert und es deshalb fahrlässig versäumt, ihn früher, als sie es dann tatsächlich taten, zur Notfallbehandlung ins Inselspital zu verlegen? Diese Frage muss Gerichtspräsident Urs Reusser heute, nach zwei Prozesstagen, in Schlosswil beantworten fast fünf Jahre nach dem Vorfall.

Die als Privatkläger auftretenden Eltern des Patienten machen geltend, dass ihr Sohn wegen «dieser Unterlassung» und nach der dann im Inselspital notwendig gewordenen Operation von Abszessen und Nekrosen möglicherweise mit einer bleibenden Schwächung der Beine und Arme und Narben an beiden Oberschenkeln leben müsse. Ihr Anwalt verlangte Schuldsprüche wegen fahrlässiger schwerer, eventuell einfacher Körperverletzung und eine «angemessene Bestrafung». Er stützte sich dabei vor allem auf das von einem Psychiater verfasste medizinische Gutachten ab, in dem von «lebensbedrohender Situation» die Rede sei und davon, dass «eine sofortige Operation notwendig gewesen» sei. Die Verlegung in die Insel sei zu spät erfolgt, kritisierte der Anwalt, eingehende Untersuchungen der Schmerzsymptome seien «trotz himmeltraurigem Zustand des Patienten» unterblieben, und zwischen Pflege und Ärzteschaft habe «die Kommunikation nicht geklappt».

Warum erst zwei Wochen später?

Die angeschuldigte Oberärztin schilderte vor Gericht den Patienten als «schwerst psychisch krank». Seine psychotischen Störungen hätten es schwierig gemacht, seine körperlichen Schmerzen genau zu lokalisieren. Der Mann sei täglich von zwei Ärzten untersucht worden. Ihr Stellvertreter und der verantwortliche Internist hätten bei ihm wegen massiven Nebenwirkungen richtigerweise das Medikament gewechselt, worauf die festgestellten Symptome («Verkrampfung, Schluckprobleme, Unbeweglichkeit») abgeklungen seien. Erst zwei Wochen später, als sich die Laborwerte plötzlich verschlechtert hätten, habe man die Überführung des Patienten ins Inselspital verfügt «im Wissen, dass seine psychiatrische Behandlung dort dann weniger optimal sein kann als bei uns in Münsingen». Auch die beiden involvierten Ärzte haben vor Gericht nun jede Schuld von sich gewiesen. Es habe nach ihrer übereinstimmenden Beurteilung keinen Verdacht auf die später dann manifest gewordenen Komplikationen gegeben. Deshalb sei der Patient erst vierzehn Tage später, nach einer «abrupten Verschlechterung» seines Zustands, in die Insel überwiesen worden. Er würde heute wieder genau so handeln wie vor fünf Jahren, sagte der Internist. Und meinte: «Nach 37 Berufsjahren als Arzt habe ich ungezählte solche Entscheide getroffen und wenn ich nun daran denke, wie oft man mich offenbar schon hätte einklagen können, wird mir schwindlig.»

Freisprüche verlangt

Die drei Anwälte der Ärzte plädierten auf Freisprüche. Von Sorgfaltspflichtverletzung könne keine Rede sein, die Ärzte hätten «im Moment und am Krankenbett» entscheiden und handeln müssen, und nun gehe man retrospektiv, im Wissen um die später eingetretenen Komplikationen, auf sie los. Auch das medizinische Gutachten sei von «nachträglichem Wissen» geprägt. Es strotze vor Begriffen wie «eventuell», «wahrscheinlich» oder «allenfalls» und unterschlage neuste Fachliteratur. Und:Die den Ärzten nun angelasteten sehr seltenen Gesundheitsprobleme des Patienten seien auch gemäss Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin Bern (IRM) als «schicksalhaft» zu betrachten, also «nicht als Folge von Behandlungsfehlern». Auch bei früherer Einweisung in die Insel wäre, laut IRM, eine Operation «wahrscheinlich nötig» gewesen.

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Erstellt: 21.01.2004
Geändert: 21.01.2004
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