Münsingen - Das Loryheim lässt einige nicht mehr los

Immer wieder wird auf BERN-OST ein Artikel zum Loryheim von ehemaligen Bewohnerinnen kommentiert. Die meisten waren noch vor der Jahrtausendwende dort. Diese Zeit scheint sie noch immer zu verfolgen. BERN-OST traf sich mit einer der Frauen, die als Jugendliche im Loryheim platziert wurden. Wie geht es ihr heute mit der Erinnerung? Und was sagt das Loryheim dazu?

Isabelle Berger, isabelle.berger@bern-ost.ch

Cristina Ryser kam 1998/99 mit 15 Jahren im Loryheim in die geschlossene Abteilung. „Ich hatte eine Identitätskrise, suchte nach dem Sinn des Lebens und äusserte dies durch Rebellieren und klein-kriminelle Taten“, beschreibt Ryser den Grund für ihre Platzierung im Heim.

 

„Auf der geschlossenen Abteilung gab es sehr starre Strukturen“, sagt Ryser. Man habe zum Beispiel beim Essen nicht über Persönliches sprechen und nichts Persönliches im Zimmer haben dürfen. Der Tagesablauf sei streng geregelt gewesen. „Es herrschte ein autoritärer Erziehungsstil und man wurde gezwungen sich anzupassen“, sagt sie.

 

Ryser: „Ich fühle mich ausgeschlossen“

 

Während dem Aufenthalt durfte Ryser keinen Kontakt zur Aussenwelt haben. „Es wurde einem stattdessen eingetrichtert, wie die Welt und die Leute draussen sein sollen“, sagt Ryser, die noch heute immer wieder enttäuscht wird, weil es doch anders ist, als ihr gesagt wurde.

 

„Ich fühle mich heute noch ausgeschlossen“, sagt sie. Sie wünscht sich das Gefühl, sich in einer Gruppe wohl und zugehörig zu fühlen. Den Umgang mit den wiederkehrenden Enttäuschungen über die Realität und dem gefühlsmässigen Auf und Ab musste sie lernen.

 

„Ich musste lernen loszulassen und nicht die Schuld den anderen zu geben, sondern für mich selbst Verantwortung zu übernehmen“, sagt sie. Es hilft ihr zudem, sich mit positiven Sachen abzulenken und die Trauer, wenn sie hochkommt, zuzulassen und weinen zu können.

 

Das Heimkonzept hat sich geändert

 

Als Ryser im Heim war, kam die heutige Heimleiterin Eliane Michel neu auf ihren Posten. Damals hätte es eine erste grosse konzeptionelle Veränderung gegeben und aktuell arbeite sie gerade wieder an einer. „Wir wollen sicher nicht Jugendliche traumatisieren“, sagt Michel, die sich der Probleme früherer Verhältnisse im Heim bewusst ist.

 

„Es war aber nicht für alle schlecht,“ sagt sie und erzählt: „Eine ehemalige Bewohnerin wollte zum Beispiel, dass ihre Tochter auch ins Loryheim konnte, weil ihr der Aufenthalt damals gut getan hatte.“ Michel sagt aber auch, dass ein Eintritt ins Heim in jedem Fall ein massiver Eingriff sei, an dem es nichts zu beschönigen gebe.

 

„Wir sind bereit für Gespräche und Besuche“

 

Dass sich ehemalige Bewohnerinnen beim Loryheim melden, komme ab und zu vor. „Es gibt Frauen, die das Bedürfnis haben, diese Phase ihres Lebens abzuschliessen“, sagt sie. So hat sie zum Beispiel einmal eine Frau durchs Heim geführt und ihr die Räume gezeigt, in denen sie einst wohnte.

 

„Wir sind in jedem Fall bereit zu einem Gespräch und es ist möglich das Heim zu besuchen“, bietet Michel an. Betroffenen Frauen rät sie sich zu melden, wenn sie das Bedürfnis haben zu kommen. Michel betont aber, dass sie mehrheitlich positive Rückmeldungen erhalten.

 

Mitbewohnerinnen zu finden ist schwierig

 

Ryser kann es sich schlecht vorstellen das Heim wieder zu besuchen. Sie würde sich aber gerne mit Frauen treffen, die damals mit ihr im Heim waren. „Der Austausch würde sicher dabei helfen, wie man jetzt mit dem Erlebten umgeht,“ sagt sie.

 

„Aus Datenschutzgründen können wir leider nicht helfen bei der Kontaktaufnahme“, sagt Michel. Sie verweist aber auf die Facebook-Gruppe „Ex-Insassen des Jugendheim Lory“ , über welche sich ehemalige Bewohnerinnen wiederfinden könnten.

 

Kreativer Ausdruck würde helfen

 

Ihre Identitätskrise hat Ryser heute grösstenteils überwunden. Sie ist mittlerweile Arbeitsagogin und Mutter von zwei Kindern. Sie, die selber für sich singt und tanzt, hat sich schon überlegt, ihre Geschichte auf kreative Art und Weise zu verarbeiten.

 

Dies hätte ihr im Rückblick bereits im Loryheim geholfen. Sie wünscht sich, dass es den heutigen Bewohnerinnen möglich ist, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. 

Siehe auch Newsberichte...
- "80 Jahre Loryheim Münsingen: 'Wir wollen niemanden fallen lassen'" vom 25.08.2015
- "Gewaltvorwürfe gegen Loryheim in Münsingen: Ab und an muss der Gärtner ran" vom 19.01.2008
- "Münsingen - Europarat prangt Zustände im Jugendheim Lory an" vom 07.01.2008

[i] Betroffene Frauen, die sich gerne mit Cristina Ryser austauschen möchten, können sich per Mail an cristina.ryser@icloud.com bei ihr melden.
[i] Zur Facebookgruppe "Ex-Insassen des Jugendheim Lory"


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Erstellt: 01.10.2017
Geändert: 01.10.2017
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