Münsingen - Baumann will bauen, aber Maurer mauert

Beide sind Politiker und Gewerbler, und beide sind aufs Auto angewiesen. Für Urs Baumann (SVP) ist klar: Ohne neue Entlastungsstrasse droht der Kollaps. Christoph Maurer (Grüne) sagt: Es geht auch ohne.

Johannes Reichen, Berner Zeitung BZ

Am letzten Samstag steht Urs Baumann im Zentrumskreisel in Münsingen und verteilt Flyer. Er hat sich zwei grosse Plakate umgehängt. Er wirbt für ein Ja bei der Abstimmung zur Entlastungsstrasse am 24. September. Nach einer Weile schmeckt er Salz auf den Lippen – wegen der Abgase. «Das kommt vom ständigen Stop-and-go der Autos», sagt Baumann, der die SVP Münsingen und das Pro-Komitee «Verkehr Münsingen» präsidiert.

Zur gleichen Zeit sitzt Christoph Maurer auf einem mit Sonnenblumen geschmückten Traktor. Er nimmt an der «Bauerndemo» gegen die Entlastungsstrasse teil. Der Verkehr hält sich in Grenzen, gemütlich tuckern die Traktoren durchs Dorf. «Wir haben nicht einmal Stau verursacht», sagt Maurer, der Mitglied der Grünen ist.

Zwei Meinungen

Der 49-jährige Baumann und der 60-jährige Maurer sind beide in Münsingen aufgewachsen. Beide sind sie politisch aktiv, und beide führen im Dorf einen Gewerbebetrieb. Als Gewerbler sind Baumann und Maurer auf das Auto und auf Strassen angewiesen. Aber auf die geplante Strasse haben sie eine völlig unterschiedliche Sichtweise.

Baumann sagt: «Wir kommen an unsere Grenzen. Die Strasse ist finanziell tragbar und sorgt tatsächlich für eine Entlastung.» Maurer sagt: «Wir haben überall ein Verkehrsproblem, nicht nur in Münsingen. Eine neue Strasse löst keine Probleme, sondern verursacht nur mehr Verkehr.»

Blick in die Geschichte

Wenn man Urs Baumann fragt, wann der Verkehr zum Problem wurde, geht er weit zurück. «Anfang der 90er-Jahre begann der Bauboom.» Mit den Überbauungen Schlossmatt, Husrüti, Ahornweg, Lindenweg, Hölzliacker, Giessenpark, Erlenau sei das Unterdorf explosiv gewachsen. Seit 1980 habe die Bevölkerung um über 3000 Einwohner zugenommen.

Und auch die Mobilität habe zugenommen. «Früher hatte noch nicht jedes Familienmitglied ein eigenes Auto.» Doch die Mobilität habe enorm zugenommen. Nun müsse man bereit sein, auch Kulturland für Verkehrslösungen zu opfern.

Einst sehr fortschrittlich

Zur Erklärung seines Standpunkts dreht auch Christoph Maurer die Zeit um dreissig Jahr zurück. «Damals waren wir in Münsingen noch sehr fortschrittlich.» Man habe sich grundsätzliche Überlegungen zur Mobilität gemacht und das Projekt «Eile mit Weile» ins Leben gerufen. Man habe dafür gesorgt, dass keine Shoppingcenter in die grüne Wiese gebaut würden, dass die Geschäfte im Dorfzentrum angesiedelt seien, mit den SBB für gute Bedingungen gekämpft.

Doch auf einmal habe sich der Wind gedreht. Einst sei geplant gewesen, dass man zuerst die Ortsdurchfahrt saniere und dann nach fünf Jahren überprüfe, ob noch weitere Massnahmen geplant seien. «Jetzt kehrt man das Ganze um: erst die Strasse, dann die Sanierung.»

Baumanns Aufnahmen

Baumann sitzt als Vertreter der SVP im Gemeindeparlament. Dort setzte er sich vehement für die Strasse ein. Mit einer Luftaufnahme von 1925 wollte er aufzeigen, dass sich das Strassennetz seither kaum verändert hat. Und mit einem Film wollte er veranschaulichen, wie viele Autos jeden Tag durchs Dorfzentrum fahren: 18 000 Fahrzeuge.

Dafür hatte er über dem Zentrumskreisel eine Drohne steigen lassen. «Wir haben jetzt wieder gleich viel Verkehr auf der Ortsdurchfahrt wie vor dem Bau der Autobahn durchs Aaretal 1972», sagt Baumann. Münsingen habe sich seither stark verändert. «Wir müssen wieder handeln.»

Maurers Rücktritt

Maurer war bis Ende des letzten Jahres Gemeinderat. Dann trat er zurück. «Ich habe verschiedene Dinge nicht mehr verstanden», sagt er: zum Beispiel die Entwicklung des westlichen Bahnhofareals, wo ein grosses Alterszentrum und ein Platz geplant sind, über den die verlängerte Entlastungsstrasse dereinst führen soll. «Das geht mir nicht in den Kopf.»

Mit seinen Argumenten sei er immer öfter auf verlorenem Pos-ten gestanden. Und bei der Entlastungsstrasse habe er ebenso keine Chance gehabt. Mit einer Variante, die das Gebiet etwas mehr schonen würde, hätte er sich sogar einverstanden erklärt. «Doch dann kamen Gelüste auf, dass sich auch der Kanton und der Bund an der Finanzierung beteiligen könnten.» Daraus habe ein völlig überrissenes Projekt resultiert.

Gewerbler und Autofahrer

Baumann leitet ein Elektrogeschäft an der Südstrasse nahe der Ortsdurchfahrt. «Früher gab es nur aus Richtung Rubigen Stau, nun haben wir ihn auch von Wichtrach und dem westlichen Ortsteil her.» Das bedeute eine schlechte Lebensqualität und sei für das Gewerbe ein Problem: «Wir wollen unsere Kunden möglichst zügig bedienen.»

Und schliesslich leide der öffentliche Verkehr darunter. «Wenn die Leute den Zug verpassen, weil der Bus stecken bleibt, dann ist auch der ÖV nichts mehr wert.» Ohne neue Strasse müssten auf der alten Bahnhofstrasse die Kurzzeitparkplätze zugunsten einer Busspur aufgehoben und der Verkehr aus den Quartieren dosiert werden.

Stau auch auf der Autobahn

Maurer betreibt an der Bernstrasse eine Ökogärtnerei. Auch er ist auf das Auto angewiesen. Er stehe selber viel im Stau. «Wenn wir abends um fünf Uhr von Bern heimkommen, dann stehen wir von Rubigen her sechs bis sieben Minuten im Stau.» Aber zuvor sei er schon im Berner Ostring eine halbe Stunde lang gestanden. «Der Stau auf der Autobahn ist viel schlimmer, aber davon redet niemand.»

Am Morgen müsse man nach Bern eine Stunde oder mehr einplanen. «Wenn nötig, fahren wir halt eine halbe Stunde später los, um dem gröbsten Stau auszuweichen.» Und ausserdem findet er Stau durchaus sinnvoll: «Im besten Fall bringt er die Leute zum Nachdenken.»

Tunnel löst Probleme nicht

Urs Baumann würde den Kulturlandverlust im Rossboden zwar bedauern. Er gibt aber zu bedenken: «Es geht nur ein kleiner Teil verloren.» In der Vergangenheit sei viel öfter «gesündigt» worden. Er selbst habe auf dem Schulweg noch Kühe gesehen. «Heute gibt es kaum mehr Bauern im Dorf.»

Für ihn ist die geplante Strasse nicht «das Gelbe vom Ei». Lieber hätte er eine Tunnellösung gesehen. Doch er musste sich belehren lassen: technisch kaum machbar, nicht zahlbar, unrealistisch. Zudem löse ein Tunnel die Probleme nicht, da der Verkehr vorwiegend hausgemacht sei. So ist die Strasse ein Kompromiss, mit dem er gut leben kann. «Wir brauchen sie.»

Grüner Rossboden

Christoph Maurer möchte bewahren, was vom «alten» Münsingen noch geblieben ist: das Gebiet zwischen dem Psychiatriezentrum und dem Schloss. In den 70er-Jahren sei es ausgezont worden. Das Klinikareal sei unter Schutz gestellt worden, und auch der Rossboden sei eine Landschaftsschutzzone.

Er glaubt nicht, dass dieses Gebiet mit einer neuen Strasse lange grün bleibt. Er werde es nicht mehr erleben, aber der Druck auf Bauland sei so gross, dass entlang der neuen Strasse einmal Häuser gebaut würden. «Das wäre schade.»

DIE ABSTIMMUNG

Am 24. September entscheiden die Münsinger Stimmberechtigten über die Entlastungsstrasse Nord. Der Gemeinderat will die Bernstrasse mit dem Ortsteil West verbinden und damit das Ortszentrum um täglich 6000 Fahrzeuge entlasten. Die Strasse kann auch von Lastwagen befahren werden. Die vorliegende Variante führt durch das Landschaftsschutzgebiet Rossboden und nahe dem Psychiatriezentrum Münsingen vorbei bis zum Schulzentrum Schlossmatt. Die Kosten betragen 15,2 Millionen Franken, wobei die Gemeinde Münsingen 6,5 Millionen Franken bezahlt. Der Rest soll durch Bund und Kanton finanziert werden, der Entscheid dazu ist aber noch nicht gefallen. Als weitere Teile der «Verkehrslösung» soll auch die Ortsdurchfahrt umgestaltet werden und die Entlastungsstrasse in eine neu durchgehende Industriestrasse führen.

[i] Zum Video des Podiumsgespräch auf der BERN-OST-Facebook-Seite...


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Erstellt: 09.09.2017
Geändert: 09.09.2017
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