Münsingen - Als sie anfing, war sie eine Exotin

Eine Frau? Noch vor 30 Jahren mussten sich viele daran gewöhnen, dass Marianne Wenger am Steuer sass. Sie war die erste Postautochauffeuse im Kanton Bern, nun wird sie pensioniert.

Stephan Künzi, Thuner Tagblatt

Als sie 1990 in der Region Münsingen als Postautochauffeuse anfing, war sie noch ab und zu mit dem Dreiklanghorn unterwegs. Damals brachte sie in den gelb-roten Bussen regelmässig Post und Passagiere auf den Belpberg, und wenn sie dafür ausnahmsweise das alte Schnauzenpostauto nahm, wurde es auf der kurvigen Strasse eng. «Manchmal», gesteht sie im Rückblick, «habe ich das Horn auch nur zur Freude der Kinder betätigt.» Heute sind diese Zeiten längst Vergangenheit. Die Postautokurse auf den Belpberg sind genauso verschwunden wie der alte Saurer mit dem berühmten «Tüü-taa-too», der schon damals nur noch als Reservefahrzeug diente. Nun hat sich auch für sie persönlich alles geändert: Marianne Wenger, seinerzeit die erste Postautochauffeuse im Kanton Bern, ist am Wochenende mit 64 Jahren pensioniert worden.

Der konsternierte Mann

Ans Steuer der gelb-roten Busse gesetzt hatte sich Marianne Wenger 1986 in der Region Thun. Nach Ausbildungen in der Gastronomie, in der Pferdepflege und in einer Detektivschule wollte sie sich ihren Traum erfüllen und Postauto fahren. Was sie damals als Exotin in ihrem Beruf erlebte, lässt sie nur noch schmunzeln. Insbesondere die Geschichte des Mannes, der sie beim Einsteigen ungläubig anstarrte, ihr dann beschied, von einer Frau lasse er sich nicht chauffieren, und auf dem Absatz kehrtmachte. «Später ist er trotzdem regelmässig mit mir gefahren.»

Für Konsternation sorgte sie schon, als sie auf die offene Stelle hin zum Telefon griff und anrief. Ob sie für ihren Mann anrufe, tönte es durch den Hörer. Die Stelle bekam sie trotzdem – als einzige Frau gegen 22 männliche Bewerber. Den Grund bekam sie erst später mit. Ihr damaliger Chef suchte jemanden, der im Betriebsgebäude auch die Treppe putzte, «und mir war das egal».

Der Stolz des Chefs

Beim Chef in der Region Münsingen war das vier Jahre später schon anders. «Er war einfach stolz darauf, eine Frau in seinem Team zu haben», erklärt sie. Und schiebt gleich die Erklärung dafür nach, wieso sie nach so kurzer Zeit bereits 1990 wechselte: Ihre alte Linie in der Region Thun ging an ein privates Verkehrsunternehmen, «doch ich wollte dem Postauto treu bleiben».

Im Team in der Region Münsingen ist Marianne Wenger bis zuletzt die einzige Frau geblieben. Chauffeuse zu sein, wurde trotzdem schnell etwas Alltägliches (siehe Kasten). «Bei meinen Kollegen war ich stets voll akzeptiert.» Und: «In meinem letzten Weiterbildungskurs mit dreissig Teilnehmenden waren wir immerhin vier oder fünf Frauen.»

Die erste Spur im Schnee

Wie sie ihre Zeit am Steuer erlebt habe? Marianne Wenger wechselt das Thema, redet jetzt davon, wie sehr sich das Postautonetz in der Region Münsingen entwickelt habe. Und um wie viel hektischer und unpersönlicher ihr Beruf dabei geworden sei: «Früher kannte ich die Leute mit Namen, war mit vielen per Du.» Die Fahrzeiten seien grosszügiger bemessen gewesen und die Züge wohl ein Stück weit unpünktlicher. Wenn es für den Anschluss mal nicht gereicht habe, «konnten wir den Zug ein paar Minuten aufhalten lassen».

Trotzdem: Als Aushilfe wird sich Marianne Wenger auch in Zukunft ans Steuer des Postautos setzen. Gleichzeitig freut sie sich darauf, nun mehr Zeit für Reisen mit dem Töff oder für Ausflüge mit Bahn und Bus zu haben. Die Erinnerung an die gute alte Zeit am Belpberg verblasst trotzdem nicht: «Es war immer so speziell, im Winter frühmorgens auf der verschneiten Strasse die erste Spur zu ziehen.»


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Erstellt: 03.08.2015
Geändert: 03.08.2015
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