Bewegen statt rumstehen: An diesem Bänkli darf man turnen

Am Bahnhof in Münsingen dürften in den nächsten Wochen Menschen zu beobachten sein, die sich nicht erwartungsgemäss verhalten: Statt wartend herumzustehen, sind sie in Bewegung, hüpfen, klettern, balancieren, rennen. Dazu werden sie im Rahmen eines Versuchs der Parkour-Schule "Parkour One" mittels verschiedener Massnahmen aufgefordert. Eine davon ist ein Bänkli, auf dem man nicht nur sitzen kann. BERN-OST-Redaktorin Isabelle Berger hat es ausprobiert.

Isabelle Berger, info@bern-ost.ch

Seit letzter Woche steht am Münsinger Bahnhof ein spezielles Bänkli. Es ist integriert in eine dreieckige etwa zweieinhalb Meter hohe Konstruktion mit senk- und waagrechten Stangen. Diese Woche folgten rund um den Bahnhof Aufkleber mit Sprüchen, die dazu animieren, sich zu bewegen: Auf einer Linie gehen, einen Sprint hinlegen, durch ein "Himmel und Hölle" hüpfen, eine Sitzbank für Kraftübungen nutzen oder auf einem Bein stehe, bis das Poschi kommt. Bald sollen Plakate mit Aufforderungen und später auch noch Animator:innen vor Ort dazukommen. Nach und nach verschwinden die Anreize dann schrittweise wieder.

 

Das Ganze ist ein Projekt zur Bewegungsförderung, welches Parkour One im Rahmen des Innovationslabors "lab7x1" des Bundesamts für Sport (BASPO) durchführt. "Wir wollen mit dem Projekt die Leute dafür sensibilisieren, dass Bewegung im Alltag selbstverständlich sein sollte", sagt Roger Widmer, Gründer und Mitinhaber von Parkour One. Das BASPO verfolgt das Ziel, dass sich alle Schweizer:innen eine Stunde an sieben Tagen die Woche bewegen sollen und will dies mit dem "lab7x1" fördern.

 

Gegen die Hemmungen

Als Kernstück des Projekts hat Parkour One das spezielle Bänkli, genannt "Movement Corner" entwickelt. So heisst auch das ganze Projekt. Der Movement Corner soll neue Möglichkeiten zur Bewegung in der Öffentlichkeit schaffen. Gleichzeitig soll er zum Nachdenken über das Thema "Bewegung in der Öffentlichkeit" anregen. Denn einerseits fühlen sich viele Leute gehemmt, an Orten, die nicht ausdrücklich dafür gedacht sind, sich körperlich zu betätigen. Andererseits sind öffentliche Räume in der Regel nicht so gestaltet, dass sie zu Bewegung anregen. "Im Gegenteil, aus Sicherheitsgründen versucht man Bewegung oft zu verhindern, indem man Elemente so gestaltet, dass man sich nicht daran festhalten oder hochziehen kann", sagt Widmer.

 

Der Versuch läuft über mehrere Wochen. Während dieser Zeit wird Parkour One die Reaktionen der Leute beobachten.  "Wir wollen herausfinden, welche Massnahmen funktionieren und wie die Leute darauf reagieren", sagt Widmer. Die Beobachtungen würden dann ausgewertet und das Projekt weiterentwickelt. Danach will Parkour One ein Pilotprojekt starten. Schlussendlich soll der Movement Corner landesweit zum Einsatz kommen.

 

"Glaube nicht, dass jemand voll trainiert"

Bisher haben die Leute gemäss Widmer positiv darauf reagiert. "Manche machen wirklich etwas, andere lesen, was auf den Klebern steht, schmunzeln beim Weitergehen." Das entspricht Widmers Erwartungen: "Ich erwarte nicht, dass ausser uns hier jemand voll traininert." Die meisten würden die Anregungen wohl lesen und das Gedankengut mitnehmen, dass man sich auch im öffentlichen Raum körperlich betätigen könnte. Damit wäre das Ziel der Sensibilisierung für Widmer erreicht.

 

Widmer hat aber auch schon mit Leuten gesprochen, die das Projekt nicht gut fanden. "Es stellte sich aber heraus, dass sich die beiden älteren Damen das, was sie bei einem älteren Herrn beobachtet hatten, einfach selbst nicht zugetraut hätten", sagt Widmer. Der Facility Manager der SBB habe zudem anfänglich sehr kritisch auf das Bänkli reagiert. Damit habe er einen Ort mehr, an dem er Zigarettenstummel aufsammeln müsse, und das Bänkli werde sicher demoliert. "Alles, was bisher geschehen ist, ist, dass jemand die Kleber auf dem Bänkli etwas abgekratzt hat." Das bestätigt Widmers Erfahrung aus über 20 Jahren Parkour: Die Nutzung des öffentlichen Raums für sportliche Aktivitäten hilft gegen Vandalismus, Littering und Unruhe. Darum glaubt Widmer auch nicht, dass es durch die Projektmassnahmen zu Störungen oder gefährlichem Verhalten kommt.

 

Gemeinde unterstützt Projekt

Das Projekt stösst jedenfalls auf Resonanz. Gemäss Widmer wird in der Münsinger Bevölkerung bereits darüber geredet. Die Gemeinde habe das Projekt  aktiv unterstützt, indem sie dessen Durchführung in Münsingen ermöglichte. Widmer begann in Münsingen als Erster in der Schweiz mit Parcours und hat nach anfänglichen Widerständen eine gute Beziehung zur Gemeinde und seine Parkours-Schule aufgebaut. 2019 erhielt Parkour One sogar den Sportpreis der Gemeinde.

 

Movement Corner ist aber bereits auch andernorts auf Anklang gestossen. "Die Stadt Biel wollte drei Bänke bei mir kaufen." Soweit sei es aber noch nicht. Und für Münsingen sei das Projekt nach Ablauf der Versuchswochen vorerst beendet. "Es sei denn, sie wollen sowas zum Beispiel für den neuen Dorfplatz."

 

Der Test

Das kann ich nur empfehlen. Ich liess es mir nicht nehmen, den Movement Corner auszuprobieren. Dazu muss ich sagen, dass ich einerseits als Eingeweihte nicht unvoreingenommen an die Sache herangehen konnte. Andererseits muss ich mich keineswegs dazu überwinden, mich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Für mich ist dieses Bänkli genau das, was ich mir seit Kind immer gewünscht habe. Meine Langeweile beim Warten vertrieb ich mir regelmässig damit, an allem zu klettern und herumzuturnen, was meine Umgebung so bot. Als Erwachsene bin ich mir aber bewusst, dass ich auffalle, wenn ich sowas mache. Interessanterweise fühlte ich mich am Movement Corner vollkommen legitimiert. Ich hätte erwartet, dass entweder die Hemmung oder aber der Reiz des Verbotenen mitschwingen würde. Doch es machte einfach nur Freude. Gefährlich fand ich es auch nicht. Die Installation ist stabil und man kann sich gut daran festhalten.

 

Neben dem persönlichen Verhältnis zu Bewegung und allfälligen Hemmungen in der Öffentlichkeit sehe ich aber einen ganz praktischen Punkt, der Leute daran hindern könnte, den Aufforderungen Folge zu leisten: Die Kleider. Vieles dürfte in der schicken "Büro-Aalegi" locker umsetzbar sein. Aber das zumindest für mich Schönste, das Klettern am Movement Corner, wäre ohne das Ausziehen meiner Sandalen mit Absätzen und der Bereitschaft, in der Öffentlichkeit einen Schranz in meinen Hosen zu riskieren, nicht möglich gewesen.


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Erstellt: 01.09.2022
Geändert: 01.09.2022
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