Motorrad - Der Gladiator hat hohe Ziele und süsse Träume
Der Oberdiessbacher Motorradfahrer Tom Lüthi analysiert auf dem Chuderhüsi seine Saison – und blickt zuversichtlich in die Zukunft.
Die Nebeldecke hängt tief über Bern und Thun, es ist ein trüber, trister, grauer Tag. Doch bereits in Linden, der Heimat Tom Lüthis und Tor zum Emmental, war es am Dienstag vor einer Woche wunderbar sonnig. Und noch ein bisschen weiter hinten und oben, auf dem Chuderhüsi, ist die Szenerie geradezu lieblich. Es ist 10 Grad wärmer als in der Stadt, die Landschaft ist atemberaubend schön. Heimspiel für Tom Lüthi, der strahlend die Bergkette erklärt, auf Wege zeigt, die er kennt, und auf Hügel, die er mit dem Mountainbike bezwungen hat. «Sieht doch aus wie im Paradies», ruft Lüthi. Er hat seine Freundin Fabienne Kropf mitgebracht und ist prächtig gelaunt. Der erfolgreichste Schweizer Motorradfahrer geniesst in diesen strengen Tagen die angenehme Abwechslung an der Höhensonne.
Die Saison ist zwar zu Ende, nicht aber seine Arbeit. Sponsorenbesuche stehen auf seiner Agenda und Medientermine, er ist gebucht für Autogrammstunden in Einkaufscentern in Basel, Zürich oder Wallisellen, um nur drei Stationen zu nennen. Manchmal sei das ganz schön anstrengend, findet Lüthi. «Aber es ist schön, wenn sich die Leute freuen, mich zu sehen.»
Tom Lüthis Status ist ja ein wenig verblasst in der schnelllebigen Sportwelt. Er ist jetzt 25 Jahre alt, reifer und erfahrener und abgeklärter, er ist nicht mehr der unbekümmerte Töffbub, der 2005 als 19-Jähriger Weltmeister in der 125er-Kategorie wurde und zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt wurde – vor Tennissuperstar Roger Federer! Aber weil er seit Jahren zwar ein Versprechen, aber kein WM-Kandidat in der höheren Klasse ist, sind die Schlagzeilen weniger euphorisch geworden. «Das stört mich nicht», sagt Lüthi, «so ist das halt im Sport. Das Interesse wird sofort wieder grösser, wenn ich um den WM-Titel mitfahre.»
Der Berner blickt auf ein abwechslungsreiches Jahr zurück, das er im Moto-2-Zirkus als Fünfter beendete. «Es war ein ständiges Auf und Ab», sagt Lüthi, und er ist selbstkritisch genug, um sagen zu können: «Ich muss konstanter werden, ganz klar.»
Und schon analysiert Tom Lüthi das abgelaufene Rennjahr. Er berichtet vom starken Beginn mit Podestplätzen in Katar und Spanien, erwähnt die Misere im Sommer, als er mal Probleme mit der Zündung hatte und mal mit dem Hinterreifen und mal mit der Technik, er spricht von «Dingen, die ich nicht beeinflussen kann», aber man spürt, dass er keine Ausreden suchen will. «Ich habe auch Fehler gemacht, das ist ein ständiger Lernprozess.» Im dritten Rennen in Portugal («da war ich klar der stärkste Fahrer») versuchte er seinen guten Saisonstart mit der Brechstange in einen brillanten zu veredeln. «Ich führte das Rennen an und wollte zu früh wegfahren», sagt Lüthi. Es kam zum Sturz, das war ein harter Rückschlag, wie er sagt. Und: «Heute würde ich anders, gelassener fahren.»
Das Saisonfazit fällt an diesem Dienstagmittag auf dem Chuderhüsi dennoch positiv aus. Und das liegt daran, dass Tom Lüthi in der zweiten Saisonhälfte die Kurve gekriegt hat. «Wir arbeiteten hart und präzis», sagt er. «Und wir sind belohnt worden.» Erstmals seit fünf Jahren triumphierte Lüthi am GP von Malaysia, es war sein insgesamt 6.GP-Sieg, und doch war es ein trauriger Tag, verstarb doch der Italiener Marco Simoncelli wenige Stunden nach Lüthis Erfolg im Moto-GP-Rennen. «Ich kannte ihn schon lange und sehr gut», sagt Lüthi. «Das war ein Schock für uns alle.» Bekannte und Freunde hätten sich bei ihm gemeldet, er habe gespürt, wie sie Angst hatten um ihn. «Die absolute Sicherheit gibt es nicht, die existiert aber auch nicht auf der Autobahn oder in einem Flugzeug», sagt Lüthi.
Und Fabienne Kropf meint, sie vertraue ihrem Freund. «Ich kenne ihn gar nicht anders», sagt sie. «Er hat nun mal keinen normalen Job. Motorradfahrer sind wie Gladiatoren. Tom braucht diesen Kick, Rennen fahren ist sein Leben.» Sie arbeitet im Management Lüthis mit und ist an den meisten Veranstaltungen dabei. «Natürlich gab es Leute wie seine Mutter, die sich in den ersten Wochen nach dem tragischen Unfall mehr Sorgen als sonst machten», sagt Kropf. «Doch wir wissen alle, wie viel der Motorradsport Tom bedeutet.»
Tom Lüthi ist ein Draufgänger. Er ist ein Vollblutracer, und er ist seit wenigen Wochen wieder ein Siegfahrer. «Das ist wichtig für mich und gut für das Selbstvertrauen.» Er peilt nächstes Jahr hohe Ziele an, er traut sich den WM-Titel zu, das spürt man. Sagen würde er das nie. «Die Moto-2-Kategorie ist brutal ausgeglichen, es kann viel passieren», sagt Lüthi. Der deutsche Weltmeister Stefan Bradl wird nicht mehr sein Konkurrent sein, er unterschrieb vor wenigen Tagen einen Vertrag in der Königsklasse Moto-GP. «Es spielt keine Rolle, wer nächste Saison dabei sein wird, es wird sowieso wieder eng werden», sagt der Emmentaler.
Er freue sich auf seine neue Maschine, sagt Lüthi, das schon, aber er sei froh, im Dezember ausspannen zu können. Gemütliche Badeferien sind geplant und unbeschwerte Skitage in Verbier, aufs Motocrossfahren in Kalifornien verzichtet er im Januar, wie bereits vor der letzten Saison: «Es ist zu gefährlich und macht als Vorbereitung für mich sowieso nur bedingt Sinn.»
An seiner Fitness und Physis wird Lüthi auch in den nächsten Wochen hart arbeiten. Und im Februar gehen bereits die Vorsaisontests los, die Saison beginnt im April erneut mit dem Nachtrennen in Katar. «Ich bin sehr motiviert», sagt Lüthi mehr als einmal während des Gesprächs.
Das Feuer brennt. Lüthi will sich beweisen, und im Hintergrund bleibt die Moto-GP-Kategorie sein Traum – auch und gerade weil es in diesem Jahr trotz beträchtlichen Anstrengungen noch nicht geklappt hat. «Es ist ein Frage des Timings und vor allem der Finanzen», erklärt Lüthi.
Bei Manager Daniel Epp fühlt er sich immer noch bestens aufgehoben und beraten, mit seinem Team ist er sehr zufrieden, im nächsten Jahr wird ein tschechischer Experte für Reifen und Benzin dazustossen. «Jedes Detail kann entscheidend sein», sagt Lüthi. Seine Augen strahlen, wenn er erzählt, wie er sich darauf freue, mit den Mechanikern an der Abstimmung zu feilen. Stundenlang. Bis alles so ist, wie es sein sollte. Wie er es möchte.
Tom Lüthi blickt jetzt auf dem Chuderhüsi versonnen in die Sonne. Er hat noch lange nicht genug, das Jahr 2012 soll das beste seiner Karriere werden. Er kennt den süssen Duft des Erfolges. Und hat ihn nicht vergessen.