Mein Job: Die Artistin im LKW

Anaïs Rüegg ist eigentlich ein Zirkuskind. Die Manege war jahrelang ihr Arbeitsplatz. Doch heute ist alles anders. Die Dreissigjährige aus Linden fährt mit einem Vierzigtönner durch die Schweiz und Europa.

Sonja L. Bauer, Berner Zeitung BZ

Ausprobiert hat sie einiges: «Ich arbeitete im Büro, als Köchin, als Serviertochter und als Verkäuferin. Gelangweilt hat mich alles», sagt Anaïs Rüegg. Kein Wunder. Die zierliche Frau übte jahrelang einen spannenden und nicht alltäglichen Beruf aus: Sie war Luftakrobatin im Zirkus. «Seit ich denken kann, bin ich Artistin», so die Dreissigjährige. Bereits als Kind begleitete Anaïs Rüegg ihre Eltern in die Manege. «Mein Vater und meine Mutter verwirklichten sich 1988 ihren Lebenstraum und gründeten den Schweizer Zirkus Stellina.» Ihr vor einigen Jahren verstorbene Vater war Clown, die Mutter Schlangenbeschwörerin.

Vom Trapez in den LKW

Als Kind lebte Anaïs Rüegg im Wohnwagen, verbrachte viel Zeit im Zirkuszelt. Sie hatte Privatlehrer und war das einzige Kind in der Zirkusschule. Eigentlich hätte sie, wie damals ihre Mutter, in der Manege auf dem Seil tanzen sollen. «Doch ich wusste früh, dass ich aufs Trapez will», sagt sie. So wurde «der Mond» ihr Daheim. Ein am Dach des Zeltes festgemachtes Gestänge in Form eines Mondes, worauf Anaïs Rüegg Equilibristik– artistische Balancekunst – ausübte. Zu ihrer Mama pflege sie bis heute ein inniges Verhältnis. «Sie erkannte früh meinen starken Willen und liess mich gewähren.»

Heute gehört für Anaïs Rüegg, die in Linden wohnt, das Zirkusleben der Vergangenheit an. Den Zirkus Stellina haben ihre Eltern längst verkauft. Mit achtzehn verbrachte sie ihr letztes Jahr in der Manege, zusammen mit ihrem Vater, im Zirkus Medrano. Das Wanderleben machte die damals junge Frau nicht mehr glücklich. Sie hatte nur einen Wunsch: «Raus aus dem Zirkus.» Anaïs Rüegg wollte Freundschaften schliessen, die länger dauern als nur eine Saison – und «schliesslich war das Zirkusleben der Traum meiner Eltern, nicht meiner».

Wohnung statt Wohnwagen

Der Alltag als «Sesshafte» sei ihr von Anfang an leichtgefallen. Sie jobbte bei der Hardrockband Gotthard. Verkaufte an deren Konzerten T-Shirts für Fans. Durch ihren Exfreund, einen LKW-Fahrer, fand sie den Weg in die Führerkabine von 40-Tönnern. Kaum hatte sie jedoch den Führerschein, erlitt sie einen schlimmen Unfall: «Eine Kollegin übersah mich an der Laderampe und zerquetschte mich mit ihrem LKW regelrecht», sagt Anais Rüegg. «Dass ich noch laufen kann, ist ein Wunder». Sie vermutet, dass ihr dabei ihre Beweglichkeit geholfen habe.

Anaïs Rüegg, die in ihrer Freizeit auf einer Suzuki GSX S 1000 unterwegs ist, arbeitet heute als freischaffende Chauffeurin für vier Schweizer Firmen und fährt mit deren LKWs durch die Schweiz und Europa. Ihre bisher längste Route führte sie nach Barcelona. Als Fracht führt sie technisches Material für Konzerte oder Möbel mit, und manchmal transportiert sie Ware vom Flughafen zu Firmen.

Mit dem Zirkusleben noch nicht abgeschlossen

Als LKW-Fahrerin ist Anaïs Rüegg zwar immer noch unterwegs, wie einst im Zirkus, «abends bin ich aber daheim in meiner Wohnung». Die Einsamkeit in der Führerkabine mache ihr manchmal zu schaffen, besonders bei Fahrten ins Ausland. Trotzdem liebe sie ihren Beruf. Ob sie jedoch für immer mit dem Zirkusleben abgeschlossen habe, darüber ist sich Anaïs Rüegg nicht so sicher. Erst recht nicht, da ihr Partner aus einer Artistenfamilie stammt. «Ich verliebte mich in ihn, ohne das zu wissen», sagt sie mit einem Schmunzeln. «Das Schicksal führt einen wohl doch immer wieder zu seinen Wurzeln zurück.»

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Erstellt: 01.02.2018
Geändert: 01.02.2018
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