Landiswil - Ein Leben in Gräben und auf Eggen
Hohe Steuern, rare Postautokurse, Raserhochburg: Sogar Landiswiler selbst glauben, dass sie auf der Schattenseite leben. Dabei bietet der Alltag in der Emmentaler Naturarena viel Freiheit und Abwechslung.
Tote Hose. Mitten im Dorf Landiswil, auf dem Platz bei der Käserei, ist keine Menschenseele zu sehen. Aus der Ferne hört man Kuhglockengeläut. Vor einigen Minuten ist das Postauto weggefahren, welches lediglich neunmal pro Tag Richtung Lützelflüh oder Biglen verkehrt. Ein Rentner hat im Kleinbus Platz genommen. Ausgestiegen ist niemand. Einen Kilometer weiter unten in Obergoldbach, das ebenfalls zur Gemeinde gehört, gleicht sich die Szenerie. Beim Schulhaus sind die Storen heruntergelassen. Es sind Schulferien. Der Parkplatz beim Restaurant ist leer gefegt. An einem Schopf ist noch das Bildnis eines SVP-Grossratskandidaten angeschlagen sowie das Plakat eines Pro-Gripen-Anlasses, der Mitte Mai in der Nachbargemeinde stattgefunden hat. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Einsamer Höhepunkt ist ein Pferdefuhrwerk, das in gemütlichem Tempo unterwegs ist. Die Hektik und der Stress der Stadt sind weit weg, obwohl Landiswil zum Verwaltungskreis Bern-Mittelland zählt. Rund 25 Kilometer sind es bis nach Bern.
Der Kontrast zur Stimmung in der Gemeinde könnte nicht grösser sein: Landiswil ist die Raserhochburg im Kanton Bern. Auf 100 Messungen in der Gemeinde gibt es 39 Geschwindigkeitsübertretungen (siehe Text rechts). Auf der Landstrasse in Obergoldbach wurden vor ein paar Jahren zwar verkehrsberuhigende Massnahmen ergriffen. Vor der Einfahrt ins Dorf befindet sich eine Tempo-60-Zone ohne Mittelstreifen. Dann folgt neben der Mehrzweckhalle ein «Kamelbuckel». Dennoch wird vor allem an Wochenenden nach wie vor gerne aufs Gaspedal gedrückt. «Die kurvenreiche Strecke über die Tanne ist wohl interessant, um das Auto oder das Motorrad zu testen», sagt Franz Hofer, der oben am kleinen Tannen-Pass unweit der Strasse wohnt. Es komme auch immer wieder zu Unfällen. Manchmal bleibe es bei einem Blechschaden, ab und zu gebe es aber auch Zusammenstösse oder Fahrzeuge kämen von der Strasse ab.
SVP-Fahrgemeinschaft nach Bern
Auch wenn für viele Tempoüberschreitungen der Durchgangsverkehr verantwortlich sein dürfte, ist das Auto in der 640-Seelen-Gemeinde omnipräsent. Man hat das Gefühl, dass neben jedem Hof eines steht. «Wir sind voll auf das Auto angewiesen», sagt der Landiswiler SVP-Grossrat Werner Moser. Er wohnt in Siegenthal auf 830 Metern über Meer. Dort hat es sogar einen «Kreisel». Denn in der Mitte der Kreuzung steht eine Linde. Darum herum sind die Bauernhäuser des Weilers angeordnet – schön im Kreis. Nebst den Anwohnern verirren sich ab und zu Ausflügler hierher, die auf dem Heimweg von der Moosegg sind – einem bekannten Aussichtspunkt im Emmental. Die nächste Postautohaltestelle ist zwei Kilometer entfernt. In der Regel fährt Moser mit dem Auto an die Sessionen im Berner Rathaus. Er bildet mit drei anderen Emmentaler SVP-Grossräten eine Fahrgemeinschaft ab Grosshöchstetten. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln würde die Anreise gut eineinhalb Stunden dauern.
Auch Franz Hofer fährt regelmässig nach Bern. Er arbeitet dort als Geschäftsführer der Ökonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern (OGG) – der ländlichen Denkfabrik mit städtischen Wurzeln. Bis Biglen oder Konolfingen sitzt er jeweils hinter dem Steuerrad, dann steigt er in den Zug um. Zusammen mit seiner Familie lebt er in Ochsenwald, in einem stolzen, umgebauten Emmentaler Bauernhaus aus dem Jahr 1806, das von einer mächtigen Linde überragt wird. Hofers Frau Ana stammt aus Peru. «Am Anfang haben sich die Leute nach mir umgedreht», sagt sie. Die Berührungsängste der Einheimischen waren spürbar. Mit der Zeit kamen dann aber Offenheit und Herzlichkeit zum Vorschein. Dies ist typisch für den Charakterzug des Emmentalers. Hofers halten auf ihrem Hof 30 Mutterschafe. Sie verkaufen das Fleisch der Tiere, zum Teil direkt an die Konsumenten.
Gegenpol zu Gewinnmaximierung
Sechs Kilometer entfernt, am anderen Ende der Gemeinde, stehen bei Werner Moser 18 Milchkühe im Stall. Er bewirtschaftet den Bauernhof zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn. Zusätzlich bauen sie Saatkartoffeln und Erdbeeren an. «Wir wollen vom Arbeitsverdienst leben – und nicht von den Subventionen», sagt der Grossrat. Mit den Erdbeeren haben sie eine Nische gefunden. Aufgrund der Höhenlage sind ihre Früchte erst reif, wenn im Seeland die Felder schon leer gepflückt sind. Moser schätzt die Freiheiten, die er hat. «Die Arbeit können wir uns einteilen, einzig vom Wetter sind wir abhängig.»
Franz Hofer kommt derweil auf das Suffizienz-Prinzip zu sprechen. Er sieht das «beschauliche Leben» in Landiswil als Gegenpol zu den Gewinnmaximierungstendenzen unserer Zeit. «Ein Kleinbauer will so viel, dass es reicht, um davon zu leben. Die Leute sind zufrieden mit dem, was sie haben.» Allerdings ist er mit dem Gang der Dinge in der Gemeinde nicht immer einverstanden. Mühe hatte er etwa, als der frühere Gemeindepräsident verlauten liess, man sei im Graben unten auf der Schattenseite und könne deshalb keine grossen Sprünge machen. Wahrlich, Landiswil ist eine Steuerhölle (Steuerfuss 2,0). Eine Post oder einen Arzt sucht man vergebens. «In den Gräben und auf den Eggen ist aber noch viel Potenzial vorhanden», sagt Hofer. Die gedanklichen Grenzen müssten gesprengt werden. Der Querdenker nennt ein Beispiel. Statt in einem leer stehenden Schulhaus einfach Wohnungen einzubauen, könnte ein Ideenwettbewerb durchgeführt werden – zusammen mit Städtern. «Das wäre für Landiswil revolutionär.»
Drei Beizen, drei Eishockeyklubs
Landiswil hat mehr zu bieten, als man auf dem leer gefegten Dorfplatz im ersten Moment ahnt. Es ist kein Ort, wo man einfach mit Vollgas vorbeifahren sollte. Die Aussicht oben auf den Eggen auf die Hügellandschaft des Emmentals ist atemberaubend, und dann die Stille, nichts als Stille. Wanderer oder Mountainbiker finden hier ein Paradies vor. In der Gemeinde gibt es immer noch drei Restaurants, die Musikgesellschaft, den Schützenverein, den Jodlerklub, die Hornussergesellschaft und sogar drei Eishockeyklubs, die in der «wilden Liga» spielen. Und wenn bei schönem Wetter die Traktoren die Hänge hinauf- und herunterfahren, geht es gemäss Franz Hofer «wie in einem Bienenhaus» zu und her. Von wegen tote Hose.
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Tempo Teufel in ländlicher Idylle
Auf dem Lande, möchte man meinen, ist das Tempo gemächlich und die Hektik fern. Das gilt offenbar nicht für jene, die automobil unterwegs sind: Alle Raserhochburgen, die die Kantonspolizei Bern gestützt auf ihre Geschwindigkeitsmessstatistik ausweist, liegen in ländlicher Idylle. Spitzenreiter war 2013 Landiswil. Auf 100 Messungen wurden dort 39 Geschwindigkeitsübertretungen geahndet. Landiswil obsiegte im ländlichen Duell gegen Eriz mit 37 Prozent Ahndungen. Wo viel gefahren und viel gemessen wird, wird in aller Regel etwas weniger gerast. So wurden in Moosseedorf beispielsweise über 50 000 Fahrzeuge gemessen. Zu schnell unterwegs waren 2,6 Prozent. Am meisten Fahrzeuge überhaupt – 168 000 – wurden in Bern gemessen. 5,8 Prozent davon waren zu schnell unterwegs. Damit liegt Bern im Negativranking vor den Städten Thun (4,9 %) und Biel (4,5 %).
Quelle: Kantonspolizei Bern, Geschwindigkeitsmessstatistik 2013; Messungen auf Autobahnen nicht eingeschlossen.
[i] Weitere Bilder aus Landiswil auf www.extrem.derbund.ch.