Kunstausstellung in Wichtrach: Wer nichts sieht, sieht nichts

Wenn sich die Gegenwart mit den Fragen der Vergangenheit herumschlägt: In zwei Berner Galerien werden aktuell die Möglichkeiten der Malerei ausgelotet.

Martin Bieri, "Der Bund"

Am Ende des Zweiten Weltkriegs gerät der deutsche Maler und Klee-Schüler Fritz Winter in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Während seiner Internierung arbeitet er weiter, mehrere Hundert Zeichnungen entstehen. Als er 1949 entlassen wird, zerstört er einen grossen Teil davon, weil er nicht glaubt, den Russen klar machen zu können, dass es sich dabei um abstrakte Kunst und nicht um Spionagematerial handelt.

Am Ursprung der Abstraktion

Die Anekdote bringt ein Problem der abs­trak­ten Malerei auf den Punkt: Wer darin nichts sieht, sieht nichts darin, weil das Bild nichts anderes meint als sich selbst, weil es kein Abbild ist. Die Geschichte des unter den Nazis als «entartet» geltenden, in der Nachkriegszeit aber hoch geachteten Winter ist eine unter vielen, die den Kampf für eine neue Ausdrucksform an ein biografisches Schicksal bindet.

In der Galerie Henze & Ketterer in Wichtrach sind nun etliche Werke von Fritz Winter zu sehen, darunter ein Blatt aus der Serie «Triebkräfte der Erde» von 1944, als Winter schwer verwundet auf Heimaturlaub war.

Die Präsentation wird ergänzt durch weitere Abstrakte aus den Beständen des Hauses, mehrheitlich deutsche Nachkriegsmoderne. Zusammengefasst werden all diese Werke unter dem Titel «Micromégas», nach einer Erzählung Voltaires, einem frühen Stück Science-Fiction, in der die Erde von Bewohnern des Sirius besucht wird. Dabei geraten alle physischen und ideellen Masse durcheinander, das Grosse scheint klein, das Kleine gross, das Wahre falsch und umgekehrt. Und das ist in Wichtrach nicht allein metaphorisch gemeint.

Relativitätstheorie und Quantenphysik, mikro- und teleskopisches Sehen hätten, so die Vermutung, zu neuen Bildwelten geführt, die man besonders bei Winters Werken aus den 1930er-Jahren sehen kann: Zellen, Kristalle, Planeten, Sternennebel. Erst nach dem Krieg folgt dann die vollkommene Abstraktion mit an der japanischen Kalligrafie orientierten Liniengeflechten.

So scheint es jedenfalls im Rückblick. Doch was erzählt diese Sicht? Dass der ästhetische Bruch, den die Abstraktion erzeugte, vielleicht doch gar kein so grundsätzlicher war? Oder zeigt sie einfach, dass die Produktion von Kunst auf der gesellschaftlichen Zirkulation von Bildern beruht und sich nicht nach kunsthistorischen Schemata richtet?

Heroen der Moderne

An den Fragen, die die Abstraktion vor Jahrzehnten aufgeworfen hat, arbeitet sich die Malerei noch heute ab, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen und vor allem mit einer ganz anen, weit weniger heroischen – oder soll man sagen: heroistischen? – Haltung.

Aktuell zu sehen ist das zum Beispiel bei Duflon Racz in der Ausstellung der 1962 in Bern geborenen und in London lebenden Christina Niederberger. Sie hat am Goldsmiths Institute in London studiert und wurde vor einem Jahr in das Investorenhandbuch «100 Painters of Tomorrow» aufgenommen. Niederberger malt konzeptuell.

Was bleibt ihr anderes übrig? Sie kommentiert Stile, Methoden und Motive der klassischen Moderne mit ihren eigenen Mitteln: Picasso, Braque, Mondrian, Pollock werden mit gemalten Textilien frei nachgebildet, Spitzen und Stickmuster auf Leinwand nehmen den männlichen Heroen ihre Unantastbarkeit. Niederberger interessiert sich für die formalen Voraussetzungen ihrer einst bahnbrechenden und mittlerweile vollkommen verbreiteten Bildsprachen und dafür, warum sie unterdessen oft zur reinen Dekoration verkommen sind.

In bestem Sinne dekorativ sind übrigens auch die Arbeiten von Heiko Blankenstein, ebenfalls bei Duflon Racz. «Lightthing», eine innenarchitektonische Supernova aus Eisen, Neonlicht und Plastikröhrchen schlägt den Bogen zurück zur künstlerischen Verarbeitung von Wissenschaft.

Auch die popkulturell aufgeladenen, Geschichten von einem anderen Planeten erzählenden Leuchtkästen hätten den nach neuen Welten suchenden Abstrakten womöglich gefallen – auch wenn es denen wohl doch um etwas mehr ging als ums Gefallen.

[i] Henze & Ketterer, Wichtrach: Micromégas I & Micromégas II, 12. September bis 30. Januar 2016.

[i] Duflon Racz: Christina Niederberger: New Age Modernism, Heiko Blankenstein: Heliotron, bis 20. September.


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Erstellt: 12.09.2015
Geändert: 12.09.2015
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