Konolfingen - Sexangebot für Behinderte wirft Fragen auf
Die Bernerin Isabelle Kölbl hat eine Internetseite für Prostituierte lanciert, die sich auf Menschen mit einer Behinderung spezialisieren. Die Resonanz ist positiv. Einige Punkte lösen aber Diskussionen aus.
Ein Mann mit einer geistigen Behinderung hat nur noch wenige Tage zu leben. Noch nie ist er mit einer Frau intim geworden. Nur einmal möchte er Sex erleben. Die Pfleger organisieren für ihn eine Prostituierte – und werden enttäuscht. Die erste Sexarbeiterin kehrt auf der Schwelle um, als sie den kranken Mann sieht. Die zweite berührt den Mann, befriedigt ihn. Geschlechtsverkehr aber schliesst sie aus. Der Mann stirbt wenig später – ohne jemals wirklich mit einer Frau geschlafen zu haben.
Es ist die Bernerin Isabelle Kölbl, die diese Geschichte erzählt. Sie ist mit ein Grund, warum Sexcare.ch vor wenigen Tagen lanciert wurde. Auf der Internetseite können Prostituierte inserieren. Hier finden Männer mit einer Behinderung eine Sexarbeiterin, die mit ihrem Handicap umgehen kann, so das Versprechen, sei es ein geistiges oder ein körperliches Handicap.
Reicht ein kurzer Workshop?
Organisationen wie Pro Infirmis und Insieme stehen der Seite grundsätzlich positiv gegenüber. «Es ist gut, dass die Sexualität von geistig behinderten Menschen unterstützt wird», sagt Carmen Wegmann, Psychologin bei der Fachstelle Lebensräume von Insieme. Sie hätten weniger Möglichkeiten, ihre Sexualität auszuleben und weniger potenzielle Partner. «Wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Frauen gut ausgebildet werden», sagt Wegmann. Vor allem die Ethik sei ein wichtiges Thema (siehe Kasten). Sie schätze Isabelle Kölbl als seriöse Frau ein, sagt Wegmann. Trotzdem setze sie bei der Ausbildung von Sexcare ein Fragezeichen. Sexualbegleiter werden über sieben Wochenenden hinweg ausgebildet, die Frauen von Sexcare besuchen nur einen eintägigen Workshop.
Isabelle Kölbl sagt, die Frauen würden auch neben dem Workshop gecoacht. «Ich suche den Austausch und vergewissere mich, dass alles richtig läuft.» Zudem müsse man sich für die Schulung bewerben, sagt Kölbl. «Ich entscheide nach einem Treffen, ob die Frau geeignet ist.»
Liebesbeziehung üben
«Für mich ist das Angebot von Sexcare klassische Prostitution», sagt Erich Hassler. Er leitet Ausbildungen für Sexualbegleitung am Institut zur Selbstbestimmung Behinderter. «Die Aufmachung der Seite ist sehr aufreizend. Das entspricht nicht unserer Vorstellung.» Isabelle Kölbl hat selber die Ausbildung zur Sexualbegleiterin gemacht, ist von den Berufskolleginnen aber nicht begeistert. Sie böten genormten «Behindertensex» an, sagt sie.
Gegen die klassische Prostitution habe er nichts einzuwenden, betont Erich Hassler. Auch die Sexualbegleitung ist für ihn eine Form der Prostitution, allerdings mit einem anderen Ansatz: «Wir verkaufen eine zwischenmenschliche Begegnung auf Zeit, eine Art Ersatzpartnerschaft», sagt Hassler. Das Angebot richtet sich vor allem an Menschen mit einem geistigen Handicap. «Viele unserer Klienten wünschen sich im realen Leben eine Liebesbeziehung», sagt Hassler. Mit dem Sexualbegleiter könne man das – etwas salopp ausgedrückt – üben. Was die beiden erleben, hänge von der Beziehung und der Kommunikation ab. Geschlechtsverkehr und andere sexuelle Handlungen werden nicht ausgeschlossen, aber auch nicht garantiert.
Schlechte Aufklärung
Genau das stört Isabelle Kölbl. Beim Mann würden Hoffnungen auf Sex geweckt, dann aber oft enttäuscht. «Die Sexualbegleiterin entscheidet, ob dem Behinderten ein Orgasmus zusteht», kritisiert auch Peter Wehrli. Er leitet das Zentrum für Selbstbestimmtes Leben und begrüsst das Angebot von Sexcare. Die Sexualbegleitung dagegen bezeichnet er als «pseudotherapeutisch». «Eine richtige Therapie gehört in die Medizin, nicht in die Prostitution», sagt Wehrli. «Sie muss vom Arzt angeordnet, von der Wissenschaft überprüft und von der Krankenkasse bezahlt werden.» Erich Hassler kontert, es gehe um Sexualbegleitung, nicht um Sexualtherapie. Er glaube auch nicht, dass es bei der Sexualbegleitung zu Enttäuschungen kommt. Schliesslich werde das Angebot vorher genau definiert. Über Sexcare will Erich Hassler nichts Negatives sagen. Die klassische Prostitution verfolge einfach andere Ziele. «Ihr geht es um den Kunden, uns um den Menschen», sagt Hassler. «Bei uns ist die Persönlichkeitsentwicklung zentral.» Es gehe um Reflexion, um kleine Dinge, wie sich passend zu kleiden. Aber auch um Aufklärung. «Gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung kennen die Sexualität oft vor allem aus Pornofilmchen.»