Konolfingen - Konolfingerinnen mit Kaiserschnitt-Rekord
Jede dritte Geburt im Kanton Bern ist inzwischen ein Kaiserschnitt. Doch nicht etwa gestresste Stadtfrauen entscheiden sich am meisten für diesen Eingriff, sondern werdende Mütter aus ländlichen Gebieten.
Den bernischen Kaiserschnittrekord halten Frauen mit Wohnort Konolfingen: Sie gebaren im vergangenen Jahr 98 Kinder, wovon 47 durch Schnittentbindung zur Welt kamen. Das entspricht einem Anteil von 48 Prozent, wie aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Der Gynäkologe Beat Imholz führt eine Frauenarztpraxis in Konolfingen. Für ihn ist der Spitzenrang der Gemeinde eher «ein Zufall, ein Problem der kleinen Zahlen». Die Zunahme von Kaiserschnitten sei kein lokales, sondern ein weltweites Phänomen. Konolfingen liegt im Einzugsgebiet des Spitals Münsingen. Die kantonale Kaiserschnittrate liegt bei knapp 34 Prozent, womit der Kanton Bern im Vergleich mit den anderen Kantonen im mittleren Drittel liegt. Spitzenreiter ist der Kanton Zug mit einer Rate von 41 Prozent. Die gesamtschweizerische Rate liegt ebenfalls bei 33 Prozent.
Auffallend ist, dass Konolfingen mitnichten ein Ausreisser ist. Von den 21 bernischen Wohnorten, deren Einwohnerinnen mit 40 Prozent und mehr einen deutlich überdurchschnittlichen Anteil von Kaiserschnitten aufweisen, sind 19 im ländlichen Gebiet zu finden (siehe Grafik). Auch generell lässt sich festhalten, dass die Häufigkeit der Kaiserschnittgeburten nicht etwa bei den städtischen Einwohnerinnen, sondern teilweise in ländlichen Gebieten überdurchschnittlich hoch ist. Wie sind diese Befunde zu interpretieren?
Warum steigt die Zahl der Kaiserschnitte?
Zuerst die Fakten: Die Zahl der Kaiserschnitte steigt nicht nur im Kanton Bern und in der gesamten Schweiz, sondern auch weltweit. In der Schweiz stabilisieren sich die Zahlen seit fünf Jahren. Die Experten streiten darüber, warum die Kaiserschnitte zunehmen.
Liegt es an den Frauen, die aus «Bequemlichkeit» diese Art der Geburt wählen? Oder drängen nicht eher die Geburtshelfer aus Kostengründen ihre Patientinnen zu diesem Eingriff, weil ein Kaiserschnitt planbar, zeitlich begrenzt und somit effizienter ist? Hierzulande ist rund die Hälfte der Kaiserschnitte geplant, die andere Hälfte erfolgt aufgrund eines medizinischen Notfalls.
Das rechtliche Umfeld für die Frauenärzte verändert sich infolge des Einflusses durch die Rechtspraxis in den angelsächsischen Ländern: Das Risiko für hohe Haftungsforderungen bei missglückten natürlichen Geburten ist für die Schweizer Spitäler grösser geworden. Deshalb entscheiden die Mediziner im Zweifelsfall lieber für die sogenannte Sectio caesarea.
Gut möglich, dass zufällige Abweichungen in den Regionen hohe Schwankungen bei der Kaiserschnittquote verursachen. Der Frauenarzt Eduard Neuenschwander kann sich den Unterschied zwischen Stadt und Land am ehsten damit erklären, dass die Spezialisten den Frauen in ländlichen Gebieten lieber raten, in einem gut ausgerüsteten Spital zu gebären: «In abgelegenen Geburtshäusern ist das Risiko für Mutter und Kind gross, wenn es zu Komplikationen bei der Geburt kommt. Man stelle sich etwa vor, der Rettungshubschrauber kann im Notfall wegen starken Nebels nicht starten», sagt der Präsident der Berner Belegärzte-Vereinigung und Vorstand des Gynäkologenkollegiums Bern.
Was die höchste Berner Hebamme meint
Für die Präsidentin der Sektion Bern des Schweizerischen Hebammenverbandes ist es aufgrund der verfügbaren Statistik «nicht beurteilbar, ob es wirklich einen Unterschied zwischen Land und Stadt gibt»: Stärker ins Gewicht als die Wohnregion dürften für einen Kaiserschnitt vielmehr die Betreuung der schwangeren Frauen sowie der Geburtsort fallen, sagt Marianne Haueter. «Hebammen sehen die Schwangerschaft und Geburt eher als natürliche Prozesse, deren Begleitung Zeit benötigt. Für die Geburtsmediziner sind dies eher Zustände, die behandelt werden müssen», erklärt Haueter. Sie weist zudem darauf hin, dass in Privatspitälern die Rate der Kaiserschnitte höher ist als in öffentlichen Krankenhäusern.
Auch Daniel Surbek, Medizinprofessor und Chefarzt Geburtshilfe im Frauenhaus des Berner Inselspitals, beobachtet, dass «insbesondere in gewissen Privatspitälern der Stadt Bern» die Kaiserschnittrate trotz Niedrigrisikogeburten hoch sei. Einen Trend, wonach die Kaiserschnittquote bei Frauen aus ländlichen Gebieten zunimmt, sieht Surbek nicht.
Privatspitäler kontern Vorwürfe
Die Vorwürfe an die Adresse der Privatspitäler lässt der Präsident des Verbands Privatspitäler Kanton Bern nicht gelten: «Es obliegt der medizinischen Einschätzung des Arztes, ob ein Kaiserschnitt notwendig ist oder nicht. Dass ein Privatspital bei einem Kaiserschnitt unterscheiden soll zwischen Frauen mit Wohnort in der Stadt und auf dem Land, ist schlicht nicht logisch», sagt Jean-François Andrey, der zugleich Chef der Lindenhof-Sonnenhof-Gruppe Bern ist. Als möglichen Grund für die höhere Kaiserschnittquote in den Privatspitälern nennt er unter anderem, dass eine grosse Anzahl der Wöchnerinnen zusatzversichert ist und daraus eine andere Anspruchshaltung entsteht, die mit dem beruflichen und sozialen Umfeld in Zusammenhang stehen könnte.
Eduard Neuenschwander hält ebenfalls dagegen: «Ungeplante Kaiserschnitte sind für die Spitäler eher ein Verlustgeschäft. Zum Aufwand für die Geburt auf natürlichem Weg kommen die Kosten für die Operation hinzu.»
Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) hält fest, dass es bei Kaiserschnitten nicht nur grosse Unterschiede zwischen, sondern auch innerhalb der Kantone gibt. Verschiedene Faktoren beeinflussen, ob es zum Kaiserschnitt oder zu einer natürlichen Geburt kommt. Einmal spielt die Begleitdiagnose während Schwangerschaft oder Geburt eine Rolle: Bei Mehrlingen, erhöhtem Blutdruck, Diabetes und vorzeitigem Fruchtblasensprung ist eher ein Kaiserschnitt angezeigt. Bei Frauen, die ihr zweites oder drittes Kind zur Welt bringen, steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Kaiserschnitt.
Auch die Herkunft der Frauen hat einen Einfluss: Bei werdenden Müttern aus Frankreich und Deutschland kommt es weniger zu einem Kaiserschnitt als bei Frauen aus Italien, Afrika und Südamerika. Schliesslich hat das Alter einen Einfluss auf die Art der Geburt: «Bei Frauen über 35 verdoppelt sich das Quotenverhältnis für einen Kaiserschnitt», sagt Marcel Widmer, Leiter Kompetenzbereich beim Obsan.
Die tiefste Kaiserschnittrate weist übrigens Wynigen auf. Von 38 Müttern aus dieser Region gebaren 7 per Schnittentbindung – das entspricht einer Rate von 18 Prozent.