Kiesen - "Mein Götti war Briefträger und ein Held"
Heute vor 75 Jahren ereignete sich ein schwerer Eisenbahnunfall mit elf Todesopfern: Ein Schnellzug stiess mit einem wartenden Personenzug zusammen. Ein Passagier und Überlebender war der Briefträger Ernst Dietrich, damals in Steffisburg angestellt. Sein Göttibub Alfred Dietrich aus Därligen erinnert sich an die Erzählungen seines Onkels.
9.05 Uhr: "Jetzt komme ich gerade noch rechtzeitig nach Bern!" In diesem Moment ertönte ein Pfiff. 'Ein Unglück', schoss es mir durch den Kopf. Scharfes Bremsen, ein Putsch, den ich nicht einmal als besonders stark empfand, ein gewaltiger Krach, und dann war es still." So schilderte Briefträger Ernst Dietrich aus Därligen dem "Tages-Anzeiger" die Ereignisse an jenem schicksalhaften 23. September 1941.
Sein Göttibub, der heute 69-jährige Alfred Dietrich, besitzt Originalunterlagen aus jener Zeit. Das Unglück – obwohl längst vorbei – hat ihn das ganze Leben lang begleitet. "Mein Götti erzählte oft davon, wie er einem blutüberströmten Beamten des Postwagens Erste Hilfe geleistet und wie er die zerstreut herumliegenden Geldsäcke und Poststücke eingesammelt hatte."
Doch was war passiert an jenem schicksalhaften 23. September 1941? In Kiesen stiess ein Schnellzug mit hoher Geschwindigkeit mit einem Personenzug zusammen, der wegen einer Baustelle die Weiterfahrt abwarten musste. Elf Menschen starben bei diesem Unglück, siebenundzwanzig weitere waren zum Teil schwer verletzt. Es war eines der grösseren Unglücke in der jüngeren Zeit der Eisenbahngeschichte. Die Strecke zwischen Kiesen und Wichtrach wurde neu geschottert, deshalb wurde die Linie einspurig betrieben.
50 Franken Belohnung
Alfred Dietrich: «Mein Götti war Briefträger und ein Held.» Das bestätigen auch Dankesschreiben, etwa jenes der Kreispostdirektion aus demselben Jahr: "Ganz besonders liegt uns daran, Ihnen zu danken, dass Sie dem unglücklichen Herrn Imperiali die letzten Wünsche zu erfüllen suchten." Man habe der Generaldirektion beantragt, Ihnen eine Belohnung von 50 Fr. auszusetzen. Ernst Dietrich war Passagier im Personenzug, damals noch in der dritten Klasse. "Immerhin wurde ich gegen die andere Bank geworfen. Man vermeinte, in einem wiegenden Schiffchen zu sein. An den Fenstern flogen Drähte und Trümmerstücke vorüber", so erzählte er seine unglaubliche Geschichte.
"Die dritte Klasse hat ihm buchstäblich das Leben gerettet", sagt Alfred Dietrich, "die Passagiere in der ersten Klasse hatten vielfach keine Chance." Unter den Todesopfern war neben Streckenarbeitern, Soldaten und Frauen auch der Lokomotivführer des BLS-Zuges, Walter Gertsch aus Spiez. "Wunderbarerweise ist der Führer des Schnellzuges sozusagen unversehrt", hiess es im "Tages-Anzeiger" vom 24. September 1941. "Erschüttert verlassen wir die grauenvolle Stätte, eingedenk des Leides, von dem durch dieses furchtbare Unglück viele Familien so plötzlich betroffen worden sind", schliesst der damalige Korrespondent seinen Bericht.
Briefträger in Interlaken
Ernst Dietrich war zur Zeit des Unglücks Briefträger in Steffisburg, später wechselte er seinen Arbeitsort nach Interlaken, wo er bis zu seiner Pensionierung tätig war. Der 1905 Geborene verstarb 1976. Aus seiner Ehe gingen zwei Töchter hervor, ein Grosssohn lebt heute in den USA. "Wir behalten die guten Taten meines Onkels immer in Erinnerung", sagt Alfred Dietrich auf der Laube seines Hauses in Därligen, wo alte Schwarzweissfotos die Familiengeschichte erzählen. In genau diesem Haus wuchs Ernst Dietrich auf, der spätere Held des Eisenbahnunglücks vom 23. September 1941.
[i] DIE UNFALLURSACHE:
Untersuchungen zur Unfallursache ergaben später, dass der Stationsbeamte in Kiesen, der für den vorübergehend angeordneten Einspurbetrieb als Verstärkung der Station Kiesen zugeteilt worden war, die Vorschriften über die Kreuzungsverlegung nicht beachtet hatte. So war es zur Katastrophe gekommen: Der um 8.50 Uhr in Wichtrach abgefahrene Personenzug hatte Verspätung und hielt in Kiesen vor dem geschlossenen Einfahrsignal. Der Beamte glaubte, dass der Personenzug noch in Wichtrach sei und er die Zugkreuzung telefonisch von Kiesen nach Wichtrach verlegt habe. Seine fatale Entscheidung: Er öffnete für den herannahenden Schnellzug das Ausfahrsignal nach Wichtrach, wenig später prallte der Schnellzug mit 80 bis 90 Stundenkilometern in den stehenden Personenzug, in dem sich Ernst Dietrich befand.
Quelle: «Katastrophen auf Schienen. Eisenbahnunfälle, ihre Ursachen und Folgen». Zürich 1968, S. 164–172.