Jahr der Milizarbeit: Arni will Gemeinderäte ins Amt locken
Keine Museumsnacht zwar, aber eine Gemeindenacht: Arni hat sich etwas Spezielles einfallen lassen, um Vakanzen im Gemeinderat wieder besetzen zu können. Denn das ist nicht mehr selbstverständlich.
«Es funktioniert.» Kurt Rothenbühler blickt zufrieden zur Tür, die ins Gemeindehaus führt. Gerade noch sind alle auf dem Vorplatz gemütlich bei einem Potau-feu und einem Glas Wein oder Bier zusammengesessen. Doch jetzt ist es 19.56 Uhr, und um 20 Uhr ist drinnen eine Gemeinderatssitzung angesagt. Eine gespielte zwar nur, doch der Ernsthaftigkeit soll das keinen Abbruch tun: Rothenbühler, der Präsident, wird mit seinem Kollegium den rund 50 Interessierten die politische Arbeit eins zu eins vor Augen führen.
Er tut dies nicht ohne das Zutun der Zuschauer. Vorne diskutiert das Siebnergremium über Geld für eine Klimaanlage, über den Kauf einer Wischmaschine und schliesslich darüber, ob ein Weg oder wenigstens die Treppe beim Gemeindehaus zu Ehren des Präsidenten umbenannt werden soll. Für diese Idee, erfährt das Publikum, seien Unterschriften gesammelt worden – dann stimmt es zum dritten und letzten Mal mit dem Handy ab.
Verblüffend: Zuerst liegen beide Vorschläge gleichauf. Erst nach und nach erreicht die Kurt-Rothenbühler-Treppe als die einfachere und günstigere Lösung die Spitze.
Kniffliger Wettbewerb
So funktioniert lebendige Dorfpolitik, nah an der Basis und eng mit deren Alltag verzahnt. Das hat der Schweizerische Gemeindeverband Ende letzten Jahres in einem Grundsatzartikel so festgehalten. Wenn sich alle ins politische Geschehen einbrächten, in der Rolle als Politiker sogar um Kompromisse ringen müssten, würde der Staat nicht als anonyme und abstrakte Macht wahrgenommen. Milizpolitik heisst also das Zauberwort, doch die durchlebt zurzeit eine Krise (siehe Interview unten).
Die Gemeinden finden nur noch mit Mühe politisches Personal, und wer mit anpackt, erlebt oft kaum Anerkennung. 2019 als Jahr der Milizarbeit soll dafür sensibilisieren.
Fehlende Wertschätzung hat Kurt Rothenbühler in Arni nicht erlebt. «Ich werde vom Dorf getragen», sagt er. Um doch zu ergänzen, dass der allgemeine Trend auch am ländlichen Arni nicht spurlos vorübergegangen ist: Zu Beginn seiner über 20-jährigen Ratstätigkeit habe es bei Vakanzen noch mehrere Interessierte und Kampfwahlen gegeben. Mittlerweile müsse man aktiv auf Leute zugehen, um ein Amt besetzen zu können.
Auch Ende Jahr sind wieder neue Leute gefragt, weil Rothenbühler das Präsidium abgeben und ein weiterer Kollege zurücktreten wird. Der Gemeinderat überlegte, ob er zur Motivation der Leute nicht etwas Besonderes auf die Beine stellen wolle – herausgekommen ist, in Anlehnung an die Berner Museumsnacht, die Gemeindenacht von Arni.
Diese ist weit mehr als die gespielte Gemeinderatssitzung. Einen ganzen Abend lang können die Leute durch die Büros der Verwaltung streifen, mit den Büroleuten reden und nicht zuletzt auch einen Wettbewerb ausfüllen. Die Fragen sind nicht ohne. Neben Schweizer Allgemeinwissen wird auch allerhand über Arni abgefragt: Wie gross ist die Fläche der Gemeinde? Wie heissen die aktuellen Gemeinderäte? In welcher Liga spielen die Hornusser?
Gemütlicher Ausklang
Ob die Aktivitäten fruchten? Noch kann es Rothenbühler nicht sagen. Spontane Bewerbungen habe er noch keine erhalten, sagt er unmittelbar nach der Sitzung, aber das habe er auch nicht erwartet. Viel lieber will er vorerst den angefangenen Abend bei guten Gesprächen ausklingen lassen – das, davon ist er überzeugt, wird seine Wirkung nicht verfehlen.
[i] Interview: «Ein langfristiges Engagement ist heute weniger gefragt»
Markus Freitag, aktuelle Umfragen zeigen, dass die Milizpolitik in der Schweiz zwar ein hohes Ansehen geniesst, dass aber nur noch die Hälfte der Gemeinden ihre Milizämter ohne Mühe besetzen kann. Warum?
Die Arbeit in einem Gemeinderat oder in einer Kommission widerspricht im Grunde dem Zeitgeist. Man ist zwar nach wie vor bereit, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Dies passiert aber häufig kurzfristig und projektbezogen, etwa, indem man sich als Helferin oder als Helfer für ein grosses Fest zur Verfügung stellt. Öffentliche Ämter dagegen bringen eine Regelmässigkeit und Verbindlichkeit mit sich, die auf ein langfristiges Engagement aus sind. Das ist heute weniger gefragt.
Trotzdem gelingt es den Gemeinden in der Regel, ihre Ämter irgendwie zu besetzen.
Nicht überall, doch sobald Probleme auftreten, werden Massnahmen ergriffen. Man führt zum Beispiel fixe Pensen ein. Oder man fusioniert Gemeinden, denn weniger Gemeinden brauchen weniger Personal. Wenn es in der Schweiz statt der aktuell gut 2200 Gemeinden noch immer die knapp 3000 Gemeinden aus der Zeit um die Jahrtausendwende gäbe, wäre der Mangel bereits sichtbarer.
Sie haben in einer Studie 1800 Milizpolitiker in 75 Schweizer Gemeinden befragt. Sehen Sie Ansätze, die eine Trendwende herbeiführen können.
Es gibt kein einfaches Rezept, um den Mangel zu beheben. Ich sehe vielmehr fünf Handlungsfelder, die unterschiedliche Konsequenzen haben. Nehmen wir erstens den Zwang: Es klingt verlockend, das politische Engagement zur Bürgerpflicht zu machen. Die Gemeinden wären dann auf einen Schlag all ihre Rekrutierungssorgen los. Die Frage bleibt: Wie gut arbeitet jemand, der gegen seinen Willen ein politisches Amt übernehmen muss? Nehmen wir zweitens den Anreiz: Es mag vielversprechend sein, die politische Tätigkeit besser zu entschädigen.
Damit wäre schon viel geholfen. Denn man hört immer wieder, dass ein öffentliches Amt heute neben einer vollberuflichen Tätigkeit kaum mehr Platz habe.
Ja, aber die Bezahlung hat auch Schattenseiten. Mit der Professionalisierung könnte ein ungesundes Profitstreben einhergehen und die heute so wichtigen Werte wie Uneigennützigkeit oder Dienst am Allgemeinwohl aushebeln. Man könnte auch andere Anreize schaffen. Etwa, indem ein Milizengagement zertifiziert wird und so im beruflichen Weiterkommen hilft. Gerade jüngere Milizpolitiker wünschen sich eine solche Anerkennung ihrer politischen Tätigkeit, wie sie sie nicht mehr automatisch erleben.
Die Politik als Karrierehelferin also?
Ja, warum nicht? Wer als Gemeinderat, als Gemeinderätin arbeitet, übernimmt eine Führungsaufgabe, die dem beruflichen Alltag zugute kommen kann. Nehmen wir drittens die Organisation: Werden Alltagsgeschäfte der Verwaltung übertragen, kann sich der Gemeinderat völlig auf seine strategischen Aufgaben konzentrieren, was ihn entlastet. Nehmen wir viertens die Ausbildung: Lehrgänge für Amtsneulinge nehmen den Leuten die Angst, zu kandidieren. Politische Bildung in der Schule kann zudem das Interesse für ein Amt wecken. Und nehmen wir fünftens die Information: Die Gemeinde gewährt Einblicke in ihre Arbeit und versucht so, das Interesse an einem politischen Amt zu wecken.
Arni hat mit seiner Gemeindenacht diesen fünften Weg beschritten.
Ja, die Bevölkerung zu sensibilisieren, ist meist der erste Schritt. Welche weiteren Massnahmen den gewünschten Erfolg bringen, ist dann von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich.
Markus Freitag ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Die von ihm mitverfasste Studie «Milizarbeit in der Schweiz» ist im Verlag NZZ Libro erschienen.