Grosshöchstetten/Schlosswil - Grosshöchstetten United

Am 24. September entscheiden die Stimmberechtigten in Schlosswil und Grosshöchstetten, ob ihre Gemeinden fusionieren sollen. Zu Besuch auf dem Arniacher, wo der lokale Fussballklub seit Jahren unter gemeinsamer Flagge kickt.

Cedric Fröhlich, Berner Zeitung BZ
«Hey Gieeelä! Huere Siech!» Sonntagmorgen auf dem Arniacher, Heimspiel des Fussballklubs Grosshöchstetten-Schlosswil. Der Himmel hängt tief, es ist nasskalt und der FC GS kickt gegen Belp. Grätschen, Tritte, Rumgemaule. Gut 150 Zuschauer folgen dem Gebolze auf dem Rasen. Einige fluchen über die Spieler: «Gielä!» Andere über den Schiedsrichter: «Mann, das ist Eckball! Bist du blind?!» Die meisten nehmens gelassen: «Den haben wir abgelenkt, beruhig dich.» An der Buvette gibts Bier und Punsch und Hackbraten mit Kartoffelgratin. Ein ganz normaler Fussballmorgen auf dem Arniacher.
 

Schlosswil. Grosshöchstetten. «Zwöi Dörfer – Ei Verein», steht auf den blau-gelben Schals im Fanshop. 2001 haben das S und das G fusioniert. 16 Jahre später könnten die beiden namensgebenden Ortschaften dem Beispiel ihres Fussballvereins folgen: Schlosswil, Grosshöchstetten – zwei Dörfer, eine Gemeinde? Am 24. September entscheiden die Dörfer über ihre Fusion ab.

Die Nummer 50
 

Am Spielfeldrand blickt einer kritisch auf das Gezeigte. Roland Zurflüh, kariertes Hemd, Trainerjacke drüber, der Präsident des FC GS. «Role» ist einer, der anderen das Du anbietet, einer, den auf dem Arniacher alle kennen. Ein Urhöchstetter. Er hat sich entschieden: «Ich stimme mit Ja!» Die Fusion sei in Höchstetten «weniger ein Thema». Er meint damit wohl: Die Sache ist durch. In Höchstetten. Für Schlosswil könne er nicht sprechen. Er nickt in die Richtung einer Zuschauertraube nebenan. «Mit denen musst du reden, echte Schlosswiler.» Ja, Role kennt jeden auf dem Arniacher.

Schweizweit sind seit der Jahrtausendwende knapp 660 Gemeinden verschwunden. Davon 49 im Kanton Bern. Schlosswil wäre Nummer 50. Der 630-Seelen-Ort würde fortan zu einem Teil Grosshöchstettens, eingemeindet. «Geschluckt», sagen Fusionskritiker. «Aufgenommen», sagen Befürworter. In einem 40-seitigen Grundlagenbericht präsentierten Schlosswil und Grosshöchstetten die Vor- und Nachteile einer Fusion.
 

Da steht: Keine Steuererhöhung. Mehr Baulandreserven. Mehr potenzielle Kandidaten für Milizämter. Dafür: weniger Geld vom Kanton. Mindestens so entscheidend wie die objektive Kosten-Nutzen-Abwägung werden am 24. September aber die emotionalen Argumente sein: Identität, Herkunft, Verlust. Ängste.

Das Vermächtnis

Mittwochabend, vier Tage vor dem Spiel. Hanspeter Heierli, 69, den Bart auf den Millimeter genau getrimmt, kurze Hemdsärmel, sitzt am Konferenztisch der Gemeindeverwaltung Grosshöchstetten. An der Wand hängt eine Karte, Schlosswil fehlt – noch. Heierli ist der Gemeindepräsident, Ende Jahr tritt er ab. Die Fusion, sie wäre so etwas wie sein Vermächtnis.
 

Sagen würde er das nie, das ist nicht seine Art – zu unsachlich. Stattdessen spricht er über das Projekt an sich: Für Grosshöchstetten ändere sich wenig bis gar nichts. «Und wenn, dann bringt es nur Vorteile mit sich.» Ja, ein gutes Beispiel dafür sei die Poststelle, die «eventuell» auch dank dem Zuwachs durch Schlosswil im Dorf gehalten werden könne. Schlosswil habe die Fusion angestrebt und profitiere mit Sicherheit. Nein, die Steuern in Grosshöchstetten würden wegen der Fusion nicht erhöht.

 

Es spricht tatsächlich manches für die Fusion. Beide Gemeinden haben ihren Leuten verschiedene Projektschritte bereits vorgelegt, bekamen stets grünes Licht. Und doch ist sie noch immer da, diese leise Sorge. Heierli: «Wenn das Momentum noch dreht, dann nur wegen Kleinigkeiten, wenn wir nicht mit dem nötigen Fingerspitzengefühl vorgehen.»
 

Wie damals, als sich die Feuerwehren Schlosswil und Grosshöchstetten zusammengetan haben und auf dem Magazin in Schlosswil plötzlich nur noch «Feuerwehr Grosshöchstetten» stand. Als sich die Schlosswiler übergangen – geschluckt – fühlten. Der Streit war kurz. Heute steht auf dem Schild: Feuerwehr Grosshöchstetten, Magazin Schlosswil. Kleinigkeit.

Der Nicht-Urschlosswiler
 

Freitag, zwei Tage vor dem Spiel, Rushhour am Höchstetter Ortseingang. Direkt neben dem Bolzplatz Arniacher presst sich der Verkehr durch den Kreisel. Rein ins Emmental, runter nach Bern, rauf nach Thun. Schlosswil, Grosshöchstetten, zwei Pendlergemeinden.
 

Pendler ist auch Markus Geist, der vielleicht letzte Gemeindepräsident Schlosswils. Der 49-jährige arbeitet als Flottenmanager im Personenverkehr der SBB. Gerade weilt er in Griechenland, Business. Die zehn Minuten für den Anruf nimmt er sich trotzdem. Geist ist der klassische Milizpolitiker: 100-Prozent-Job, Gemeindepräsident in der Freizeit. Er lebt seit 2006 in Schlosswil, er ist ein «Zuzüger», wie manche im Ort die Nicht-Urschlosswiler nennen. Dass unberechenbare Faktoren die Abstimmung beeinflussen könnte, ist ihm klar.
 

«Gerade die traditionelle Bevölkerung, die Leute, die schon lange in Schlosswil leben, sind eher skeptisch», sagt Geist über die Stimmung im Dorf. «Es gibt eine Opposition, das ist auch o. k. so. Das ist Demokratie.» Er nehme es aber so wahr, dass viele Schlosswiler Teil von etwas Grösserem werden möchten. Ähnlich wie Berufskollege Heierli spult er die Vorteile des Projekts im Schnellzugstempo ab: Die Schlosswiler Finanzen sind gesund. Man kann heute noch mitbestimmen. Man kann gestalten. «Besser jetzt aktiv werden, als später als Bittstellerin auftreten zu müssen.» Die Gemeinde sei heute professionell geführt, aber um längerfristig überleben zu können? «Dafür sind wir schlicht zu klein.»

Der Luca
 

Auf dem Arniacher sind noch zehn Minuten zu spielen. Es ist Mittag und der Match entschieden: 3:0 für den FC GS, trotz Unterzahl. Einer der Blau-Gelben hatte glatt Rot gesehen. Weil er einem Gegenspieler in nicht ganz jugendfreiem Umgangston vermittelte, was er von ihm hielt. Roland Zurflüh wirkt zufrieden. Nebenan diskutiert die Menschentraube aus Schlosswil.
 

«Ein Ja wäre fahrlässig», sagt der Mann mit dem vollen Bart. Man verliere alles: die Schule, die Gemeindeverwaltung, die Eigenständigkeit. Sein Bruder in der orangen Daunenjacke entgegnet: «Hör auf!» Noch könne man mitentscheiden. Schlosswil habe zwei Leute auf sicher im Gemeinderat. «Wir gehören zusammen.» Seine Frau bricht das Patt: «Jetzt ist der richtige Moment.» Der Bärtige wendet sich ab.
 

Auch auf dem Feld ist Schluss. Die Spieler stapfen in die Kabinen. Der berühmteste Sohn Grosshöchstettens albert derweil mit Kollegen rum: Ski-Weltmeister Luca Aerni. Sie bereiteten ihm eine Riesenparty, damals, nach der Goldmedaille. Im Dorf nennen ihn alle «dr Luca». Früher spielte er selber im FC, heute stattet er dem Arniacher einen Besuch ab, wann immer er Zeit hat. Ja, auch er stimme ab, sagt Aerni. Nein, er verrate nicht, wie.

Der Hackbraten
 

Ein paar Meter weiter gibt es Hackbraten. Zubereitet von Hansruedi Reber und Ueli Brunner, den Superveteranen des FC GS. «Ich habe dafür gestimmt», sagt Reber, Urschlosswiler, ein Mann mit Händen wie Baggerschaufeln. Er tippt sich dabei gegen die Brust: «Aber hier drin, da tuts schon ein bisschen weh.» Er zuckt mit den Schultern, bringe ja nichts, Angst vor Neuem zu haben. Dann fischt er mit einer Pranke behutsam einen Hackbraten aus der Wärmebox.
 

Kollege Brunner, ein Höchstetter, sagt ebenfalls Ja. Es sei doch egal, aus welchem Dorf man komme. Man könne ruhig die Superveteranen als Beispiel nehmen, so Brunner. Die treffen sich jeden Montag zum Stamm. «Da gehen wir ja auch mal ins Kreuz in Schlosswil, mal ins Pintli in Grosshöchstetten. Und manchmal auch gleich in beide.»

[i] Chronik:
Die politisch Verantwortlichen in Grosshöchstetten und Schlosswil haben die Fusion jahrelang vorbereitet. Den ersten Schritt machte Schlosswil: 2015 ging der Gemeinderat des 630-Seelen-Dorfs auf die Nachbarin Grosshöchstetten zu. Mit der Frage: Wollen wirs mal versuchen? Beide Gemeinden stimmten ersten Fusionsabklärungen zu. Ergebnis davon war ein rund 40-seitiger Grundlagenbericht, der Vor- und Nachteile der «Eingemeindung» Schlosswils aufzeigte. Im März fällten beide Dörfer den Entscheid: Wir fahren fort. Detailplanung. Am 24. September fällt nun der definitive Fusionsentscheid.


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Erstellt: 15.09.2017
Geändert: 15.09.2017
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