Diskussion in Grosshöchstetten: Für jeden "Käse" an die Urne?
"Ich könnte mir vorstellen, keine Gemeindeversammlungen mehr abzuhalten." Mit diesem Satz sorgte die Grosshöchstetter Gemeindepräsidentin Christine Hofer (EVP) Anfang Jahr für Aufsehen. Das Thema kam zur Sprache, weil die Gemeinde aufgrund der Corona-Massnahmen ihre Gemeindeversammlung in eine Urnenabstimmung umwandeln musste. Ob das grundsätzlich in Zukunft denkbar wäre, wollte BERN-OST nun auch von den Ortsparteien wissen.
Die einzige Grosshöchstetter Partei, die sich schon eine Meinung zu diesem Thema gebildet hat, ist die Freie Wählergruppe (FWG) – und zwar schon vor der Corona-Pandemie. "Wir wollten das Thema Anfang 2020 in den Gemeinderat einbringen, die Zeit hat uns 'dank' Corona überholt", sagt Magnus Furrer, Präsident der FWG.
Furrer: "Gemeindeversammlung ist undemokratisch"
Die Gemeindeversammlung sei nicht demokratisch, finden die Freien Wähler*innen. "Die Nostalgie-Posaune: ‘Es kann ja jeder kommen, der will’ stimmt nicht. Was ist mit Kranken und Eltern von kleinen Kindern?", so Furrer. So, wie es jetzt sei, sei vor allem die Generation 65plus vertreten. "Die haben die Möglichkeit." Während in Grosshöchstetten an einer Gemeindeversammlung im Durchschnitt drei Prozent der Stimmberechtigten teilnähmen, seien es an der Urnenabstimmung von kürzlich deren 30 gewesen. "An einer Urnenabstimmung können mehr Leute teilnehmen."
Die Gemeindeversammlung solle aber nicht eins zu eins in eine Urnenabstimmung übergehen. "Wir fänden es zwingend, dass es im Vorfeld eine Info-Veranstaltung zu den Abstimmungsgeschäften gibt", sagt Furrer. An solchen Anlässen fände auch ein offenerer Diskurs statt, was spannender sei als die Diskussionen in den Gemeindeversammlungen.
In den anderen Parteien wurde das Thema noch nicht offiziell diskutiert. Persönliche Meinungen haben die Parteivorsitzenden aber schon, wenn auch nicht jede*r sich schon gleich viele Gedanken dazu gemacht hat.
Heierli: "Wer nicht kommt, ist nicht interessiert"
Eine klare Meinung hat Hanspeter Heierli von der BDP. "Wer an der Gemeindepolitik interessiert ist, kommt an die Gemeindeversammlung", ist er überzeugt. Alle anderen interessiere es einfach nicht. Die Gemeindeversammlung finde ja lediglich zweimal im Jahr an frühzeitig kommunizierten Terminen statt.
Er zweifelt daran, ob das Resultat repräsentativer ausfalle bei einer Urnenabstimmung. "Können die Leute rein aufgrund schriftlicher Unterlagen alles kompetent beurteilen? An der Gemeindeversammlung kann man direkt fragen", sagt er. Und dort könne man sich auch spüren. Die Gemeindeversammlung habe zudem hierzulande Tradition und es würde viel verloren gehen, würde man sie streichen.
"Ich sehe keinen Vorteil darin, die Gemeindeversammlung abzuschaffen", sagt Heierli. Auch die Infoveranstaltungen anstelle der Gemeindeversammlung machen für ihn keinen Sinn. "Dann können die Leute ja auch gleich dort abstimmen."
SP ist eher dagegen
Kritisch sieht es auch Martin Binggeli von der SP. Er hat bei seinen Parteikolleg*innen eine kleine Umfrage gemacht. "Der Tenor ist gegen die Abschaffung der Gemeindeversammlung", sagt er. Sie sei ein wichtiges Gefäss für den Austausch zwischen Bevölkerung und Behörden. Und der Gemeinderat betone ja immer, dass er den Puls der Bevölkerung spüren und offen und transparent sein wolle.
"Natürlich gibt es auch Vorbehalte gegenüber der Gemeindeversammlung: Sie ist höchst unrepräsentativ und damit politisch fragwürdig", so Binggeli. Gleichzeitig könne man auch nicht über jeden "Käse" an der Urne abstimmen. "Das wäre logistisch und finanziell unverhältnismässig". Die SP wünsche aber, dass der Gemeinderat sich Gedanken mache, wie die Teilnahme an der Gemeindeversammlung für breitere Bevölkerungskreise, vor allem jüngere Leute, attraktiver gemacht werden könnte.
Noch zeitgemäss?
Auch EVP Grosshöchstetten-Präsident Urs Winkler würde es begrüssen, wenn sich der Gemeinderat mit dem Thema auseinandersetzen würde. "Man muss sicher schauen, ob die Gemeindeversammlung noch zeitgemäss und repräsentativ ist", sagt er. Beim Urnengang hätten alle die gleiche Möglichkeit. "Ob alle an die Gemeindeversammlung kommen können, die möchten, ist fraglich." Ein Teil der Leute würde es sicher schade finden, wenn es keine Gemeindeversammlungen mehr gäbe. Andere würden den Wechsel zu Urnenabstimmungen wohl gut finden.
Reichen Info-Anlässe als Ersatz?
Wie die Bevölkerung auf eine Abschaffung der Gemeindeversammlung reagieren würde, sei wahrscheinlich eine Generationenfrage, sagt Marlène Schumacher von der FDP. "Die Älteren schätzen die Gemeindeversammlung, Jüngere wären froh um eine briefliche Abstimmung", sagt sie. Sie sieht bei beidem Vorteile. "Die Stimmbeteiligung an der Urne ist höher als bei der Gemeindeversammlung. Bei dieser kann man dafür Dinge direkt ansprechen und Fragen stellen, während es bei der Urnenabstimmung eine Einwegkommunikation gibt."
Ob man dies mit Info-Anlässen ausgleichen könnte, stellt sie in Frage. "Bringt man die Leute dahin? Wieviele kommen?" Ohne Gemeindeversammlung findet sie Info-Anlässe aber umso wichtiger. Denn wenn mit der Gemeindeversammlung die Diskussionsplattform fehlen würde, wäre dies auch nicht demokratischer.
Christen: "Urnenabstimmung ist einfacher und anonymer"
Gemeindeversammlung und Urnenabstimmung seien beide demokratisch, findet Heinz Christen von der SVP. "Jede*r, der*die will, darf teilnehmen." Bei der Gemeindeversammlung müsse man sich allerdings selber organisieren. Bei einer Urnenabstimmung werde man zuhause beliefert. "Das ist einfacher und anonymer", sagt Christen. An der Gemeindeversammlung sei man als Bürger*in zur Schau gestellt, darum sei der Rücklauf auch kleiner. "Aber Demokratie heisst für mich nicht nur verschlossen abzustimmen, sondern auch mal sein Wort kundzutun", sagt er.
Der Wandel werde jedoch kommen. "Es muss aber nicht an der Urne sein. Es gibt auch andere Methoden", sagt er. Jedenfalls brauche es beim Wechsel zu einer anderen Methode als der Gemeindeversammlung Informationsplattformen oder Veranstaltungen zur Meinungsbildung. Fehlen würde die Gemeindeversammlung den Leuten seiner Meinung nach wohl nicht.
Vorreiterinnen in der Innerschweiz
Dafür, dass es anders geht, hat Furrer Belege. Es gebe in der Schweiz Gemeinden, die schon seit Jahrzehnten an der Urne entscheiden. "Und keine ist zur Gemeindeversammlung zurückgekehrt", sagt er. Die Gemeinde Hochdorf (LU) habe die Gemeindeversammlung schon in den 1930er Jahren abgeschafft. Und Malters (LU) habe 1959 gewechselt.
Dort gab es dafür übrigens einen speziellen Grund: "Die CVP und die FDP waren so verfeindet, dass Gemeindeversammlungen regelmässig bis um Mitternacht dauerten, weil sich die Leute aufs Dach gaben", erzählt er. In den letzten zehn Jahren hätten dann SVP-Vertreter in der Innerschweiz mit Initiativen die Umstellung bewirkt. "Das Argument war, dass Urnenabstimmungen demokratischer sind", sagt Furrer.
Alles an die Urne?
Sollte das Thema in Grosshöchstetten auf den politischen Tisch kommen, gibt es noch viele offene Fragen zu klären. Eine Überlegung, die mehrere Parteivertreter*innen äusserten war, ob bei einem Wechsel zur Urnenabstimmung einzelne Geschäfte trotzdem ausgenommen sein könnten. Muss es beispielsweise über ein Budget eine Urnenabstimmung geben? Schon jetzt kommt nicht jedes Geschäft vor die Gemeindeversammlung, sondern liegt in der Kompetenz des Gemeinderates. Auch bei den Info-Anlässen stellt sich die Frage, ob es sie immer bräuchte.
Auch ob es zwingend eine Urnenabstimmung sein müsste, fragten sich einige. Als Möglichkeiten wurden digitale Formen vorgeschlagen. Binggeli nannte E-Voting, Christen Live-Streams. In diversen Kantonen werde das derzeit pandemiebedingt parallel zur physischen Gemeindeversammlung angeboten, sagt Christen. Allerdings ohne die Möglichkeit, online abzustimmen. Für solche Lösungen bräuchte es Grundsatzentscheide von Bund und Kantonen zum E-Votigng, da sich Fragen zum Datenschutz und der Gefahr der Manipulierung stellten.
Nach Corona: Freie Wähler*innen planen Offensive
Die Diskussion dürfte bald konkreter werden. Die FWG will das Thema angehen, sobald die Corona-Krise vorbei ist. Es sei gut möglich, dass eine weitere Gemeindeversammlung zu einer Urnenabstimmung umgewandelt werde, sagt Furrer. "Nachher erwarten wir vom Gemeinderat ein Fazit zu den gemachten Erfahrungen. Anhand diesen entscheiden wir über das weitere Vorgehen."
Wollte man die Gemeindeversammlung je tatsächlich abschaffen, müsste die Gemeindeordnung angepasst werden. Darüber müsste das Stimmvolk an der Urne entscheiden.