Grosshöchstetten - Ein Dorf von 700 Einwohnern nahm 500 französische Flüchtlinge auf
Während der Renovation der Kirche Grosshöchstetten muss der Gedenkstein an die Bourbaki-Armee entfernt werden. Auch in anderen Emmentaler Gemeinden stehen solche Steine.
Silvia Ben el Warda-Wullschläger, Wochen-Zeitung
Der Gedenkstein ist nur schwer zu finden. Er steht oberhalb der Kirche, verdeckt von den Ästen einer grossen Tanne. «Ich habe schon verschiedentlich Anfragen von Touristen erhalten, die den Stein gesucht haben», sagt Kirchgemeindepräsident Johannes Flückiger. Wegen der Bauarbeiten an der Kirche Grosshöchstetten (Baustellenzufahrt) wird der Stein demnächst von dort entfernt und sicher verwahrt. Auch sechs alte Grabsteine beim Eingangsbereich der Kirche müssen den Bauarbeiten weichen; sie sollen nach dem Um- und Anbau wieder einen geeigneten Platz erhalten. Dasselbe gilt für den Bourbaki-Gedenkstein. «Unser Ziel ist, ihn prominenter zu platzieren und aufzuwerten», so Flückiger. Den stark verwitterten Stein zu restaurieren, sei eine Frage des Geldes. «Wenn sich ein Sponsor dafür finden liesse, wäre das toll.»
Auf einen Schlag 87‘000 Flüchtlinge
Auf einen Schlag 87‘000 Flüchtlinge
Der Gedenkstein erinnert an die Internierung von französischen Soldaten unter General Charles Denis Bourbaki zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 (siehe Kasten). 87’000 Mann wurden praktisch über Nacht als Flüchtlinge aufgenommen. Die Schweiz als neutrales Land musste sie so internieren, dass sie während der Dauer des Konfliktes nicht mehr ausser Landes gelangen und ins Kriegsgeschehen eingreifen konnten. Die Soldaten befanden sich in einem erbärmlichen Zustand: ausgehungert, erschöpft, zerlumpt und krank übertraten sie am 1. Februar 1871 die Schweizer Grenze. Sie wurden auf die Kantone verteilt. Die grösste Last hatte der Kanton Bern zu tragen; über 20 Prozent Internierte wurden in Berner Gemeinden untergebracht. In aller Eile wurden Notquartiere und Lazarette in Schulhäusern, Pfarrhäusern oder Kirchen eingerichtet. Die lokale Bevölkerung zeigte sich hilfsbereit und versorgte die Soldaten grosszügig mit Nahrungsmitteln und Kleidern.
«Franzosenweg» nach Schlosswil
Auch verschiedene Emmentaler Gemeinden nahmen Internierte auf, so Affoltern (257 Personen), Langnau (530), Lützelflüh (250), Signau (503), Sumsiwald (398) und eben Grosshöchstetten (500). Dieses Dorf zählte damals etwa 700 Einwohner; sie wurden vor eine grosse Herausforderung gestellt. Als Unterkunft für die Soldaten wurden die «Tanzsäle von Höchstetten, Zäziwil und Oberhofen» hergerichtet, wie es im Buch «Grosshöchstetten» aus dem Jahr 1985 steht. Die «Blatternkranken» (Spitze Blattern) wurden «in einem Haus auf dem Weier» hospitalisiert. Für die Bewachung waren Mannschaften aufgeboten worden.
Nach dem Waffenstillstand verliessen die Soldaten am 16. März 1871 Grosshöchstetten wieder. Die Einwohner erinnerten sich noch lange an sie. «Die krumme und holprige Strasse nach Schlosswil wurde ‹Franzosenweg› genannt, weil Internierte daran Ausbesserungsarbeiten gemacht hatten», schreiben die Autoren. Auch den Feuerweiher im Pfrundhausmätteli haben sie ausgegraben. Bis heute erinnert der Gedenkstein oberhalb der Kirche an die Soldaten. Drei von ihnen wurden in Grosshöchstetten begraben, wie die Inschrift auf dem Stein bezeugt: Fondrat Jean, Laroque Pierre, Sibilotte Victor.
Grosse Schäden an der Kirche
Auch die Gemeinde Signau nahm Internierte auf; sie wurden in der Kirche einquartiert. Zum Schutz des Taufsteines wurde ein Fass von drei Metern Durchmesser darüber gestülpt. Ein Gedenkstein neben der Kirche erinnert an die vier Soldaten, die in Signau gestorben sind. Weniger vorsichtig war man in Lützelflüh, wo der Taufstein solche Beschädigungen erlitt, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Die ganze Kirche musste nach Beendigung der Internierung renoviert werden.
Nachdem Deutschland und Frankreich einen Friedensvertrag unterzeichnet hatten, folgte die Rückführung der Soldaten. Die 20’000 «Bourbakis» aus dem Kanton Bern reisten vom 13. bis 22 März 1871 zurück nach Frankreich.
Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71
Am 19. Juli 1870 erklärte Napo-leon III. dem Königreich Preussen den Krieg. Die Armee von Preussen und seinen Alliierten (Bayern und Württemberg) war zahlenmässig überlegen. Schon bald wurden die Franzosen in die Defensive gedrängt. Die Ostarmee unter General Charles Denis Bourbaki sollte Belfort und danach Paris befreien. Doch die 140‘000 Mann starke Truppe wurde von den Deutschen an die Schweizer Grenze entlang des Juras getrieben. Um der Gefangenschaft zu entgehen, ersuchte Justin Clinchant Ende Januar die Schweiz um Asyl. Er war nach einem Selbstmordversuch von General Bourbaki der Oberkommandierende der Ostarmee. Die Anfrage wurde vom Schweizer General Hans Herzog positiv beantwortet. Die französischen Soldaten mussten an der Grenze ihre Waffen, Munition und ihr Material abgeben. Das Burbaki-Panorama in Luzern zeigt den Grenzübertritt der Armee. In vielen Gemeinden der Schweiz stehen bis heute Gedenksteine.