Gericht: Nun richtet Lausanne über den roten Kleber
Margret Kiener Nellen will, dass der Urheber nach zwei Freisprüchen verurteilt wird.
Viele «Bund»- und BZ-Leser betrachten den roten Kleber am 23. September 2015 auf der Frontseite als SP-Wahlwerbung. Zwar fehlte das SP-Logo, doch der Satz erinnerte an den sozialdemokratischen Slogan «Für alle statt für wenige». Wer den Kleber genau ansah, merkte, dass der Spruch anders lautete: «Für wenige statt für alle». Weiter hiess es: «Wählt Kiener Nellen», verbunden mit dem Hinweis: «steuerbares Vermögen CHF 12,3 Mio, steuerbares Einkommen CHF 0.-». Als Urheber war ein Komitee «arbeitimberggebiet.ch» vermerkt. Es standen Nationalratswahlen an, und die Bolliger SP-Vertreterin kämpfte um die Wiederwahl.
Sie wollte die Fake-Werbung nicht auf sich sitzen lassen und zeigte den Urheber wegen übler Nachrede an. Der unbefangene Leser müsse meinen, sie bezahle keine Steuern, was nicht stimme. Wahr ist, dass ihr Ehemann im Jahr 2011 einen grossen Betrag in seine Pensionskasse einzahlte, was legal ist und das steuerbare Einkommen verringert. Da das Ehepaar gemeinsam veranlagt wurde, galt die Steueroptimierung auch für sie.
Freispruch vor Obergericht
Der IG «Arbeit im Berggebiet» war Margret Kiener Nellen schon lange ein Dorn im Auge. Sie hatte sich für die Abschaffung der Pauschalbesteuerung ins Zeug gelegt, was die IG verärgerte, denn diese Klientel sei wichtig für das Gewerbe, das es an der Peripherie schwer genug habe. Auch hatte die IG nicht vergessen, dass die SP-Nationalrätin den damaligen FDP- Wirtschaftsminister und früheren Unternehmer Johann Schneider-Ammann kritisiert hatte, weil seine Firma von einem – legalen – Steuerruling mit den Steuerbehörden profitiert hatte.
Reto Müller aus Zweisimmen, der Mann hinter der Kleber-Aktion, akzeptierte den Strafbefehl nicht, sondern verlangte eine Gerichtsverhandlung. Im November 2017 verteidigte ihn seine Anwältin vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland, indem sie Kiener Nellens Voten gegenüber Profiteuren und Steueroptimierern zitierte. Wer im Glashaus sitze, solle nicht mit Steinen werfen.
Das Regionalgericht befand, im Wahlkampf dürfe man nicht jede kritische Äusserung auf die Goldwaage legen. Üble Nachrede sei dies nicht. Die Unterlegene sagte dem «Bund», offenbar sei man als Politikerin im Wahlkampf zum Abschuss freigegeben, deshalb ziehe sie das Urteil ans Obergericht weiter. Doch auch dieses sprach den Oberländer am 13. Februar erneut frei.
Auf Anfrage sagte Margret Kiener Nellen gestern, sie habe gegen das Obergerichtsurteil beim Bundesgericht Rekurs eingelegt. Die Vorinstanz habe die Beweiswürdigung ungenügend vorgenommen und argumentiere widersprüchlich. Das überwiegend bürgerlich besetzte Gericht habe ein politisches Urteil gefällt. Der Durchschnittsleser habe meinen müssen, sie hinterziehe Steuern, was falsch und ehrenrührig sei. Müller müsse verurteilt werden.