Fotografie: Der Wanderer
Nicht er finde die Bilder, sondern die Bilder ihn, sagt Jürg Ramseier. Der Münsinger Fotograf gibt in Bern Einblick in dreissig Jahre seines Schaffens.
New York, 1985. Jürg Ramseier befindet sich auf dem Nachhauseweg, als hinter einer Ecke am Fleischmarkt Lydia vor ihm steht, ein junger Transvestit. Sie erblickt Ramseiers Kamera und wünscht, dass er ein Foto von ihr macht. Ramseier lichtet sie ab und weiss, dass er an diesen Ort zurückkehren wird.
Wenn er sich einmal für ein Umfeld zu interessieren beginnt, treibt ihn seine Leidenschaft dazu, immer wieder dorthin zurückzukehren. So war es auch bei Lydia. Beinahe jeden Tag ging Ramseier nun auf den Transvestitenstrich, jedes Mal in der Hoffnung, sie wiederzufinden. Zwar warnten ihn Bekannte vor den Gefahren der nächtlichen Besuche dieses Quartiers, doch der junge Fotograf liess sich nicht abhalten.
Auf dem Rundgang durch die Ausstellung «Under My Skin»,durch die Jürg Ramseier führt, trifft man gleich zu Beginn auf den halb nackten Transvestiten Lydia. Dies liegt nicht etwa daran, dass Ramseier es nötig hätte, sein Publikum mit nackter Haut zu gewinnen, sondern an der sorgfältig durchdachten Anordnung der zahlreichen Fotografien. Die Bilder von New Yorker Strassenszenen stammen aus Ramseiers Zeit in New York, wo er 1985/1986 eine Ausbildung am International Center for Photography absolvierte. Dies waren die Anfänge seines fotografischen Schaffens.
Interesse nicht nur am Bild
Hört man Ramseier über Lydia sprechen, merkt man, dass sie für ihn mehr als ein interessantes Fotosujet war. Wie immer zögerte er nicht lange und fotografierte sie bereits nach wenigen Sekunden, doch mit der Zeit lernte er sie besser kennen und wollte die Dramatik ihrer von Mittellosigkeit geprägten Existenz erfassen. Dadurch seien Bilder von einer ganz anderen Qualität entstanden, sagt Ramseier. Da diese teilweise viel Haut zeigten, sei ihm viel Geld dafür geboten worden. Er habe jedoch immer wissen wollen, was mit seinen Bildern geschieht. Deshalb veröffentlichte er die Bilder von Lydia einzig in «Das Magazin». Dazu schrieb er selbst einen Text.
Wie dieses Beispiel zeigt, hat jedes Foto von Ramseier eine spannende Geschichte. Eine besondere Vorliebe hat der 63-Jährige für das Fotografieren von Aussenseitern. So hat er etwa den gehörlosen Sohn von Freunden über Jahre hinweg fotografisch begleitet oder einen Teil der linksautonomen Berner Gruppe Zaffaraya besucht, die sich nach der gewaltsamen Räumung des «Zaff» im Juli 1985 auf dem Brachland des Gaswerkareals niederliess und dort das «Freie Land Zaffaraya» gründete.
Die Faszination für Aussenseiter sei ihm selbst erst beim Durchsehen seiner Fotografien aufgefallen, sagt Ramseier. Sie liegt womöglich nicht zuletzt an seinem Hintergrund. Ursprünglich war er als Sozialarbeiter bei der Drogenberatungsstelle tätig.
Vielseitiges Werk
Ramseiers Werk hat aber auch andere Seiten. Für seine Reihe «Heimatland» etwa ist der Münsinger mit seiner Kamera während mehrerer Jahre einfach losgezogen, sobald Licht und Laune dafür sprachen. Er sei eher «ein Wanderer», sagt Ramseier. Er ziehe gerne ohne bestimmtes Ziel los und lasse sich dann «dr Nase na» treiben, bis er irgendwo ankommt, wo es ihm gefällt. Oft sei es so, dass nicht er die Bilder finde, sondern die Bilder ihn. So sind eindrückliche Bilder der Landschaft seiner Jugend, des Aareund des Gürbetals, entstanden.
Nach seiner Ausbildung in New York war Ramseier über zwanzig Jahre freischaffend tätig. Er fotografierte etwa für «Das Magazin» und «Annabelle». In «Under My Skin» verzichtet er bewusst auf die Ausstellung von Auftragsarbeiten.
[i] Ausstellung: Kornhausforum, Bern, 29. Juni bis 6. August. www.kornhausforum.ch.