Deisswil - Die Fabrik wird Stück für Stück verschwinden
Ein Kapitel Industriegeschichte geht endgültig zu Ende: Gestern haben in der ehemaligen Kartonfabrik die Abbrucharbeiten begonnen. Bis Ende November ist von drei grossen Hallen und dem Tanklager nichts mehr zu sehen.
Neben der riesigen Kartonmaschine, die in der Halle 6 steht, fühlt man sich ziemlich klein. Ungefähr 100 Meter lang, 15 Meter hoch und gegen 2000 Tonnen schwer ist das Ungetüm aus Eisen. Bis die Kartonfabrik Deisswil vor vier Jahren schloss, war die Maschine in Betrieb. «Laut und sehr heiss» sei es in der Halle jeweils gewesen, erzählt Rafael Colombo. Er machte bereits seine Lehre in der Kartonfabrik und koordiniert nun die Abbrucharbeiten im Bernapark, wie das Areal heute heisst.
Der Abbruch hat gestern Vormittag begonnen: Vor der Halle 6 bereiten Arbeiter in orangefarbenen Überkleidern Maschinen und Material vor. Am Nachmittag trifft dann der schweizweit grösste Abriss-Spezialbagger in Deisswil ein. Nachdem er zusammengebaut ist, wird er mit seiner hydraulischen Schere die Kartonmaschine in Halle 6 Schritt für Schritt zerstückeln. Das Material – vor allem Gusseisen, Stahl und Kupfer – wird vor Ort sortiert und abtransportiert. Dann beginnt der Spezialbagger mit dem Abriss der Halle 6 sowie der benachbarten Halle 5. Diese ist bereits leer. Die Kartonmaschine, die hier stand, und andere Maschinen der stillgelegten Fabrik konnten nach der Schliessung verkauft werden. Die Käufer kamen aus der halben Welt, zum Beispiel aus Osteuropa, Nordafrika und Indien, wie Bernapark-Geschäftsführer Ivo Sonderegger erklärt.
Die Tanks verschwinden
In den nächsten gut 20 Jahren will Besitzer Hans-Ulrich Müller auf dem ehemaligen Fabrikareal ein neues städtisches Quartier schaffen. Bis zu 2000 Menschen sollen hier dereinst wohnen und bis zu 5000 arbeiten. Stehen bleiben einzig der markante Kamin und die denkmalgeschützten Fabrikhallen entlang der Bahnlinie. Sie werden derzeit saniert und künftig verschiedene Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe beherbergen.
Die restlichen Altbauten werden früher oder später Neubauten weichen müssen. Nach den Hallen 5 und 6 wird auch der sogenannte «Holländer» abgerissen. Das als erhaltenswert eingestufte Gebäude, in dem einst eine grosse Walze namens «Holländer» ratterte, hätte ursprünglich stehen bleiben sollen. Die Bausubstanz sei aber schlechter als erwartet, sagt Sonderegger. Der Erhalt lohne sich nicht mehr. Deshalb haben die Bernapark-Verantwortlichen ein Abbruchgesuch gestellt. Die prominente «Holländer»-Westfassade an der Bahnlinie soll laut den aktuellen Plänen aber erhalten bleiben. In diesem Fall kann die kantonale Denkmalpflege mit dem Abriss des restlichen Gebäudes leben. Die Abbruchbewilligung dürfte nächstens eintreffen.
Auch die vier grossen Tanklager an der Bahnlinie werden in den kommenden Wochen verschwinden. Das Schweröl, das früher hier lagerte, lieferte die Energie für die Kartonproduktion. «Alles in allem verbrauchte die Fabrik etwa gleich viel Energie wie alle Wohnhäuser der Stadt Thun», erklärt Ivo Sonderegger.
Ein bisschen Wehmut
Bereits in drei Monaten sollen die Hallen 5 und 6, der «Holländer» und das Tanklager ganz abgerissen sein. Am Standort des «Holländers» soll in absehbarer Zeit der Neubau beginnen: Geplant ist ein Gebäude mit Markthalle sowie Gewerberäumen und Wohnungen. Dort, wo heute die Hallen 5 und 6 stehen, werden vorübergehend Parkplätze eingerichtet. Die Neubauten folgen hier etwas später.
Damit die Neubaupläne Tatsache werden können, muss die Gemeinde Stettlen im Gebiet Deisswil noch ihre Ortsplanung revidieren. Die öffentliche Mitwirkung ist vorbei. Die Pläne kamen gemäss Gemeindepräsident Lorenz Hess (BDP) grundsätzlich gut an. Nun gibt es noch Anpassungen, und voraussichtlich im Frühling kommen die Pläne vors Stimmvolk.
Vorher wird nun aber abgerissen. Natürlich ist dabei auch Wehmut im Spiel. Rafael Colombo berichtet, wie in den letzten Wochen mehrere ehemalige Mitarbeiter nochmals in der Halle 6 vorbeigeschaut haben – um der Kartonmaschine, an der sie viele Jahre verbrachten, Adieu zu sagen.