Bowil - Für Jugendliche erlebbar machen, wie es wäre, ein Flüchtling zu sein

Interessanter Versuch, Flüchtlingsschicksale spielerisch nachzuempfinden: Ein Projekttag in Bowil.

Walter Däpp / Der Bund
Eine der Jugendlichen hatte sich in die Person von Salina hineinzudenken – eine 37-jährige Bäuerin, die einige Jahre zuvor ihren Mann im Krieg verloren hatte. Ein Jugendlicher war Grossvater Serik, der an Rückenschmerzen leidet. Einer war Salinas 17-jähriger Sohn, der eine Lehre machen möchte. Und eine war die 11-jährige Anya, Tochter der fiktiven Flüchtlingsfamilie Alazarov, die Ärztin werden möchte. Die Familie ist hier, auf den leeren Parkplätzen bei der Kirche Bowil, mit gelben Bändern gekennzeichnet. Wenn das Spiel Wirklichkeit wäre, lebte sie aber nicht im friedlichen Emmental, sondern in einem Land, in dem seit Jahren Bürgerkrieg herrscht. Und an diesem Nachmittag nimmt die in sehr bescheidenen Verhältnissen lebende Familie Alazarov zusammen mit anderen Familien an einem Dorffest teil.

Doch plötzlich wird die Festgemeinde von Schüssen und Detonationen aufgeschreckt. Die Menschen werden auseinandergetrieben, Familienmitglieder werden voneinander getrennt. Und einige bleiben verletzt liegen. Auch Anya wird getroffen.

Mit verbundenen Augen

Die Konfirmandinnen und Konfirmanden von Bowil und Oberthal haben ihre verschiedenfarbigen Familienbänder um die Augen gebunden, damit sie das Durcheinander nach einem solchen Gewaltübergriff blind, und damit wirklichkeitsnaher, erahnen können. Und sie können froh sein, dass die Schüsse nur harmlose Knallpetarden sind – dass der Ernst der Lage für sie nur ein Spiel ist. Es ist ein Simulationsspiel, das ihnen nahebringen soll, wie brutal es ist, eingeschüchtert, verfolgt, bedroht und angegriffen zu werden – und plötzlich ein Flüchtling zu sein.

Das Spiel ist ein vom Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) konzipiertes und von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) präsentiertes Bildungsangebot – «Stationen einer Flucht». An diesem Nachmittag ist es auf Einladung der Kirchgemeinde Grosshöchstetten in der Kirche Bowil zu Gast. Und die beiden Pfarrerinnen Regula Wloemer und Rachel Zindel hoffen, der Spielnachmittag werde ihre etwa dreissigköpfige, aufgeweckte Konfirmandinnen- und Konfirmandenschar für die ja alles andere als unterhaltende Flüchtlingsproblematik sensibilisieren.

Die Jugendlichen werden im Laufe des Nachmittags dann nicht nur mit Knallpetarden aufgeschreckt, sie werden auch mit Soldaten, Schleppern und Grenzwächtern konfrontiert, in eine Garage gesperrt, voneinander getrennt, herumgehetzt, in einer fremden Sprache mit schroffen Anweisungen herumdirigiert, von unbekannten Autoritätspersonen schikaniert, von dubiosen Gestalten drangsaliert, von Sanitätern kontrolliert und von – für sie unverständlichen – Formularen irritiert.

«Ganz gut» oder «eher mühsam»

Laut Projektbeschrieb soll das Simulationsspiel hautnah «die durch eine Flucht ausgelösten Emotionen erlebbar und erfahrbar machen – um die Menschen, die als Flüchtlinge in unser Land kommen und hier Schutz suchen, besser zu verstehen».

Ob das gelingt, bleibt nach dem Projekttag ungewiss. Einige der Jugendlichen machen interessiert mit, anderen scheint es vor allem Spass zu machen, permanent ihr Desinteresse zu bekunden und mit lockeren Sprüchen vor allem auf sich aufmerksam zu machen. Eine Schülerin findet das Spiel schliesslich zwar «recht spannend» und «lehrreich», eine andere glaubt, «nicht gross» für das Flüchtlingsproblem sensibilisiert worden zu sein. Einer erlebt das Spiel als «mühsam», für einen anderen ist es «ganz gut, aber nicht echt».

Die Leute vom SFH-Bildungsteam sind allerdings überzeugt, dass auch bei oberflächlichem Mitspielen und Hinhören «bei vielen Jugendlichen einiges haften bleibt». Dies hat auch eine Diplomarbeit an der Pädagogischen Hochschule Bern ergeben: Durch das Simulationsspiel werde eine überwiegende Mehrheit der Mitspielenden zum Nachdenken angeregt – was «Verständnis, Toleranz, Offenheit und Empathie gegenüber Ausländern» fördere. Davon ist auch Rachel Zindel überzeugt. «Wichtig ist, was bei den Jugendlichen innerlich abläuft», sagt sie.

«Niemand flüchtet freiwillig»

Und wer weiss: Vielleicht sind beim einen oder anderen auch einige Zahlen und Fakten haften geblieben. Zum Beispiel, dass weltweit rund 40 Millionen Menschen auf der Flucht sind – jeder 162. Mensch; dass Frankreich das europäische Land mit der grössten Asylgesuchszahl ist – 21 Prozent gegenüber 7 Prozent in der Schweiz; dass 2009 in der Schweiz 16 000 Asylgesuche gestellt worden sind – und zehn Jahre zuvor, 1999, 47 000; oder dass 21 Prozent der Schweizer Bevölkerung Ausländer sind – und nur ein Prozent «Personen des Asylbereichs». Und vor allem, wie Hassan Fawaz, der Leiter des Bowiler SFH-Bildungsnachmittags betonte: dass «niemand freiwillig flüchtet».

Auch die jungen Bowilerinnen hoffen, «nie flüchten zu müssen». Und auf die Frage, ob es gut sei, dass die Schweiz Flüchtlinge aufnehme, antwortet etwa die Hälfte von ihnen – vorwiegend Konfirmandinnen – mit Ja. Die andere Hälfte – vorwiegend Konfirmanden – findet, wir nähmen zu viele Flüchtlinge auf.

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Erstellt: 27.02.2010
Geändert: 27.02.2010
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