Bolligen - Wo sind die Leute?

Für "Die Nacht", das neuste Stück der Gruppe Schauplatz International, fährt man als Zuschauer in die Agglomeration und sieht einem Mann beim Schlafen zu.

Lena Rittmeyer, Der Bund
Der Stuhl ist leer. Der Sprecher abwesend. Aus dem Off liest er einen Brief vor, adressiert an seine Kollegen der Berner Gruppe Schauplatz International. Davon, wie er, Lars Studer, per Webcam mit einem Agglo-Garten in Bolligen verbunden ist, obwohl er in der Metropole Berlin lebt. Und stellt schliesslich die wesentliche Frage: «Sind die Leute in Bolligen gar nicht in Bolligen?»

Genau da, in der Aula des Oberstufenzentrums in Bolligen, zeigen Schauplatz International das Stück «Die Nacht», das von Ferdinand Hodlers gleichnamigen Gemälde inspiriert wurde. In Auftrag gegeben wurde die Produktion vom Schlachthaus-Theater, das zur Zeit wegen Renovationsarbeiten geschlossen ist und deshalb auf auswärtige Spielstätten setzt. Als man mit den Recherchen für das Projekt begann, sei man im Büro einer Schlafforscherin auf eine Postkarte von Hodlers «Nacht» gestossen, schreibt die Gruppe in ihren Unterlagen. Das Skandalbild von 1889, das damals «aus sittlichen Gründen» vom Genfer Stadtpräsidenten aus der Ausstellung entfernt wurde, wie zu Beginn ein Professor in einem Video erzählt, brachte Hodler ebenfalls aus der Provinz in die Grossstadt Paris. In der Agglo, da seien die Zeiten verschoben, denn in der Nacht sind alle Leute da, tagsüber pendeln sie in die Stadt. Man «lässt sich das Leben zerreissen», findet Schauspieler Albert Liebl, der schon immer in der Agglo wohnte, und beschreibt den Blick durch die Zugfensterscheibe als ebenso virtuell wie derjenige in den Büro-Bildschirm. Er bewundere dieses «unbedeutende Leben», das man in der Agglo führt, und liest ein paar seiner Gedichte vor, in denen er seine Eindrücke künstlerisch verarbeitet hat.

Schlafen auf dem Hodler

Das alles bleibt verbal abgehandelt und deshalb etwas eindimensional. Interessanter wird es mit dem eigentlichen Herzstück der Inszenierung, dem Schlafexperiment: Zu Romantik-Liedern von Schubert, begleitet auf einem besänftigenden Harmonium (Musik: Kaspar von Grünigen), setzt die medizinisch-technische Assistentin Iris Teuscher dem Protagonisten ein Elektroden-Häubchen auf, das seine Hirnströme auf den Bildschirm des anwesenden Professors Johannes Mathis, Leiter am Schlaf-Wach-Zentrum des Inselspitals Bern, überträgt. Dann legt sich der Patient schlafen - mitten auf dem ausgerollten Hodler, der als grosse Blache auf die Bühne gezogen wird, und umringt vom Publikum, das um das abgesteckte Spielfeld herum sitzt.

Piesackendes Nachtgespenst

Dazu erklingt eine wunderbar entrückende Sound-Kulisse der Nacht, ein Gewirr aus vorbeifahrenden Autos, Zugdurchsagen oder entferntem Hundegebell - das Wiegenlied des modernen, pendelnden Menschen, das auch den Patienten auf der Bühne allmählich in den Schlaf befördert. Wäre da nicht der fleischgewordene «Cauchemar», das schwarz verhüllte Nachtgespenst von Hodlers Bild. Er piesackt den Schlafenden, sodass dessen digitale «Konzertwellen» wiederholt ausschlagen und er aus den «heiklen Phasen», wie sie der Schlafforscher nennt, immer wieder hochschreckt.

Die Hirnströmungen des Mannes zu beobachten, bleibt dabei leider nur dem Professor vorbehalten. Während der wissenschaftlichen Vorbereitungen wird man etwas lange hingehalten, doch mit dieser letzten Szenerie gelingt es der Gruppe dann doch noch, das Geschehen reizvoll zu verdichten.

Einem Mann zuschauen, der den Schlaf sucht, die Abwesenheit im Geiste, während er in Wirklichkeit mitten auf einer Bühne liegt - damit schliesst sich überzeugend der Kreis zur Anfangsszene, in der sich ein Sprecher körperlich abwesend, aber fürs Publikum doch präsent verhält. Man ist «gerade nicht da, wo man sein will» - genau wie Pendler auf ihrem Weg zur Arbeit und zurück.


[i]  Die nächsten Vorstellungen sind in Worb. Zum BERN-OST Veranstaltungseintrag...

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Erstellt: 16.09.2013
Geändert: 16.09.2013
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