Bolligen - Und plötzlich singt der Wald

Ein Spaziergang in der Morgendämmerung am Manneberg: Trotz Rückkehr der Kälte zwitschern die Vögel den Tag, den Frühling und Partner herbei.

Daniel Riesen, Berner Zeitung BZ

Kurz nach fünf Uhr früh im Bolliger Manneberg-Wald: Eine Gruppe Frauen, Männer und Kinder schleicht auffällig unauffällig durch den Wald. Öfter bleiben sie stehen. Sie folgen einem Anführer. Er ist gross gewachsen, trägt einen Hut, im spärlichen Licht ist ein grauer Bart zu vermuten. Wenn er spricht, tut er dies leise und in ruhigen Worten. Eine Verschwörung? Nicht wirklich. Es ist «nur» ein Waldspaziergang, organisiert vom Ausschuss Natur und Landschaft der Gemeinde Bolligen. Es geht um Vogelbeobachtung mit den Ohren.

Hausrotschwanz stimmt an

Es ist kalt und feucht, dennoch sind etwa zwanzig Personen gekommen. «Dieser jährliche Frühlingsspaziergang hat schon Tradition, bei besserem Wetter kommen auch mal fünfzig Leute», sagt Ausschussmitglied Georg Ledergerber. Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt: «Viele Zugvögel sind zurück, die Brutzeit beginnt, die Vogelmännchen markieren ihr Revier», erklärt der Mann mit Bart, Paul Ingold, Zoologieprofessor im unruhigen Ruhestand. Warum ist der Spaziergang so früh am Morgen? «Weil in der Dämmerung die Vögel am intensivsten singen», sagt er. Da zirpt es schüchtern aus einem Vorgarten. Dabei ist eigentlich noch tiefschwarze Nacht. Doch der Mensch macht auch im ruhigsten Einfamilienhausquartier die Nacht zum Tag, ganz dunkel ist es hier nie. Paul Ingold identifiziert den Frühaufsteher ohne den Anflug von Zweifeln als Hausrotschwanz.

Der Wald trieft, und wäre es nicht so kühl, würde er dampfen. Es ist still, solange sich niemand bewegt. Beim Marschieren schaben die steifen Regenkleider, knirschen Steinchen unter den Sohlen, und wo der Weg nass ist, schmatzen die Stiefel. Menschen sind so diskret wie eine Herde Nashörner im Unterholz. Die Vogelwelt lässt sich aber nicht stören. Um halb sechs schimmert leichtes Tageslicht, doch der erwartete Chor ist noch einstimmig. Von Habstetten her ruft eine Amsel. «Wegen des Lichts im Siedlungsraum singen sie oft schon ganz früh», sagt der Fachmann aus Kirchlindach. Auf dem Anstieg zum höchsten Punkt des Mannebergs sind plötzlich Reifen auf nassem Asphalt zu hören. Gedämpft nur – und doch ärgerlich – jetzt, da alle Ohren das erste Gezwitscher erwarten. Denn gemäss Faustregel regen sich die ersten Vögel rund eine halbe Stunde nach Dämmerungsbeginn, der jetzt bei Viertel nach fünf liegt.

Es folgt das Rotkehlchen

5.47 Uhr. Die ersten Töne aus dem Wald. Paul Ingold lässt die Vogelhorcher werweissen. Ja genau, es ist das Rotkehlchen. Aus eins werden schnell drei, vielleicht sind es auch vier. Die dünnen Stimmchen tragen nicht weit, sie sind also ganz nah. Doch zu sehen sind die Vögel nicht, das Blätterdach hebt sich lediglich als Scherenschnitt vom leicht erhellten Himmel ab. Das gehe den Vögeln ja nicht anders, sinniert Ingold. Umso mehr mache die Kommunikation Sinn. Nun geht es schnell, im Minutentakt melden sich frische Stimmen. Aus der Distanz eine Ringeltaube, näher, aber nur kurz eine Singdrossel. Vielleicht hat das Rotkehlchen sie geweckt, wahrscheinlich war es einfach Zeit für die Morgentoilette. Paul Ingold identifiziert, ohne je zu zögern, den Kleiber, die Goldammer, Mönchsgrasmücke, Zilpzalp und Krähen. Punkt sechs meldet sich der Waldkauz – endlich kann auch der Laie mitreden. Der Buntspecht trommelt, und im Flug ruft ein Schwarzspecht Grügrügrü.

Plötzlich vielstimmig

Eine Viertelstunde nach dem ersten Zwitschern füllt ein munterer Chor den Manneberg-Wald. Ingolds Liste mit Vogelart und Uhrzeit ist auf über ein Dutzend angewachsen. Für Ungeübte ist es fast unmöglich geworden, die Stimmen auseinanderzuhalten.

Nach dem angespannten Horchen entspannt sich mit zunehmender Helligkeit die Stimmung unter den Menschen. Der Zoologe wird mit Fragen zur Vogelwelt eingedeckt, auch der menschliche Chor wird nun vielstimmig. Schnell ist es halb acht geworden, einige frösteln. Zeit für einen Kaffee.


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Erstellt: 26.04.2016
Geändert: 26.04.2016
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