Bolligen - Stimmbürger unter der Lupe

Wer viel verdient, einen guten Beruf hat, verheiratet ist und längere Zeit im Ort wohnt, beteiligt sich häufiger an Wahlen und Abstimmungen. Dies zeigt eine Studie über die Stimmbeteiligung in Bolligen.

Simon Wälti / Der Bund
Der Stimmbürger ist trotz Analysen und Studien noch ein weitgehend unbekanntes Wesen. Eine Lizenziatsarbeit des Zürcher Politologiestudenten Oliver Heer, angeregt durch die Gemeinde Bolligen, wirft nun einige neue Lichtstrahlen auf das Verhalten und die Merkmale der Stimmenden. Die Datenauswertung zeigte, dass das Einkommen, die berufliche Stellung sowie die Dauer des Wohnsitzes einen positiven Einfluss auf die Teilnahme am politischen Prozess ausüben. Je länger man an einem Ort lebe, desto grösser sei im Normalfall das Interesse an der Politik, sagte Heer gestern an einer Medienkonferenz in Bolligen. Zudem beteiligen sich die Verheirateten eher als die Ledigen. Im Gegensatz dazu bestand jedoch kein Zusammenhang zwischen Vermögen, Alter, Geschlecht und Kinderzahl und der Häufigkeit der Stimmabgabe.

Heer analysierte die Daten von 15 Abstimmungen, Wahlen und Gemeindeversammlungen aus den Jahren 2007 bis 2009 anhand einer repräsentativen Auswahl von 472 Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern.

Kein «Over-Reporting» in Bolligen

Im Unterschied zu den Vox-Analysen (Nachabstimmungsbefragungen) und Selects-Studien (Nachwahlbefragungen) stützte man sich in Bolligen auf die effektiv Stimmenden. «Es ist eine der ganz wenigen Studien in der Schweiz, die auf dem effektiven Beteiligungsverhalten beruhen», sagte Politologe Adrian Vatter, unter dessen Leitung die Studie entstanden ist. Vox- und Selects-Untersuchungen zeigten jeweils, dass Alter und Geschlecht eine Rolle spielten, dass also ältere Männer häufiger abstimmen und wählen. Es sei überraschend, dass sich dies in Bolligen nicht bestätigt habe, sagte Heer. Vox-Analysen und Selects-Studien haben jedoch einen gravierenden Nachteil, sie sind vom Phänomen des «Over-Reporting» betroffen. Mehr Befragte geben an, an der Abstimmung oder an der Wahl teilgenommen zu haben, als tatsächlich zur Urne gegangen sind. Laut Vatter lag die Stimm- und Wahlbeteiligung in den letzten Jahren in der Schweiz bei rund 45 Prozent, bei den Befragungen ergibt sich aber eine Stimmbeteiligung von 60 Prozent. «15 Prozent haben also schlichtweg gelogen», folgerte Vatter.

Ist Bolligen ein Sonderfall?

Falls nun also ältere Männer gemäss den Befragungen häufiger an die Urne gehen, in Bolligen dieser Befund aber nicht gestützt wird, könnte man annehmen, dass vor allem ältere Männer flunkern, wenn sie gefragt werden, ob sie ihrer Bürgerpflicht nachgekommen sind. Doch Vatter mahnte zur Vorsicht, denn es sei möglich, dass Bolligen «ein Sonderfall» sei. «Man müsste darum noch andere Gemeinden in der Schweiz untersuchen.»

Tatsächlich ist die politische Beteiligung in Bolligen überdurchschnittlich hoch. «Bei den Gemeinden mit mehr als 1000 Einwohnern sind wir im Kanton Bern häufig an der Spitze», sagte Gemeindepräsident Rudolf Burger (Bolligen Parteilos). «Muri und Bremgarten gehören dabei zu unseren ‹schärfsten› Konkurrenten.» In Bolligen liegt bei eidgenössischen Abstimmungen die Beteiligung im Schnitt 8,9 Prozent über derjenigen in der ganzen Schweiz. Bei der Minarett-Initiative am 29. 11. 2009 gingen in Bolligen 61,3 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne, gesamtschweizerisch waren es 51,9 Prozent. Am selben Tag wurde im Kanton Bern auch über das Stimmrechtsalter 16 abgestimmt: In Bolligen gaben 59,5 Prozent ihre Stimme ab. Der Schnitt im ganzen Kanton lag dagegen bei 49,9 Prozent. Über einen längeren Zeitraum beträgt der Unterschied sogar 12 Prozent.

Nur 1 Prozent Musterstimmbürger

Untersucht wurde auch die Häufigkeit der Stimm- und Wahlbeteiligung in Bolligen (siehe Tabelle unten):

15,4 Prozent sind sogenannte Totalverweigerer, also Personen, die nie an Wahlen, Abstimmungen oder Gemeindeversammlungen teilnahmen.

In der Stichprobe wurden lediglich vier Musterstimmbürger gefunden, das heisst Personen, die alle 15 Termine wahrgenommen haben. Das sind nur gerade 1,0 Prozent.

«Es gibt einen grossen Anteil von unregelmässigen Wählern», sagte Politologe Adrian Vatter. Die Studie spricht von einer «überwältigenden Mehrheit».

«Es sind nur 15 Prozent, die sich um die Politik foutieren», sagte Gemeindepräsident Burger dazu. «Das ist beruhigend.» Andererseits müssen gemäss der Studie «die sehr tiefen Anteilswerte für hohe Partizipationshäufigkeiten durch den hohen Anteil der Gemeindeversammlungen (8/15) relativiert werden». An Gemeindeversammlungen erscheinen jeweils nur einige wenige Prozent der Stimmbürger. In Bolligen gab es hier einen massiven Ausreisser nach oben. An der Gemeindeversammlung vom 26. August 2008 zur Ortsplanung nahmen 1300 der insgesamt knapp 4800 Stimmberechtigten teil.

Gemeinde will höhere Beteiligung

Der Gemeinde Bolligen sind durch die Studie keine Kosten erwachsen. Zu den Legislaturzielen des Gemeinderats gehört es, die Stimmbeteiligung wenn möglich zu erhöhen. «Wir möchten möglichst viele aktive Bürgerinnen und Bürger, die sich für die Belange der Gemeinde interessieren und einsetzen», sagte Burger. Je höher die Beteiligung, desto eher ergibt sich ein wirkliches Abbild der Bevölkerung.

Allerdings stimmt die Pauschalisierung, dass die Nichtwähler aus Protest und Unzufriedenheit der Urne fernbleiben, nicht. Laut Vatter ist der Anteil derjenigen, die grundsätzlich zufrieden sind, in der Schweiz sogar leicht höher als der Anteil der Unzufriedenen. Darum ist die grosse Stimmabstinenz in der Schweiz für Vatter auch nicht zwingend ein Krisensymptom.

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Erstellt: 24.06.2010
Geändert: 24.06.2010
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