Bolligen - Müllern wie bei Max und Moritz

Auf dem Areal der Wegmühle beim Bahnhof Bolligen steht eines der ältesten Gebäude der Gemeinde. Müllermeister Jürg Reinhard lässt die bewegte Geschichte des Areals für den «Bund» aufleben.

Sebastian Meier, Der Bund

Sie ist kaum zu übersehen, die Jahrzahl 1613 am Dachfirst des Riegelhauses einen Steinwurf vom Bahnhof Bolligen entfernt. 400 Jahre hat das schmucke Häuschen also auf dem Buckel und doch verweisen die Namen an den Briefkästen darauf, dass zumindest die eine Hälfte des Hauses noch bewohnt wird. Auf der anderen Seite lassen sich durch die trüben Fenster hingegen nur undefinierbare Silhouetten in der Dunkelheit erkennen. Was das wohl sein mag?


Der Müller dreht den gusseisernen Schlüssel im Schloss und öffnet die schwere Holztür. Die Treppenstufen sind abgenutzt und knarren unter seinen Schritten. Ein schmaler Pfad führt durch ein wildes Durcheinander aus verkeilt gestapelten Holzmöbeln. «Heute ist es nur noch eine Abstellkammer», sagt Jürg Reinhard, Müllermeister und Besitzer der Gebäude auf dem Wegmühle-Areal. «Gebaut wurde das Haus als Kundenmühle.» Mit Fuhrwerken hätten die Bauern aus der Region ihren Weizen und Dinkel angekarrt und ihn vom Müller für ein Entgeld mahlen lassen.

Gewerbler, Patrizier, Industrielle

Bis tief in die Nacht hätten seine Vorgänger vor Jahrhunderten die Getreidesäcke in den Dachstock des vierstöckigen Holzgebäudes geschleppt. Mit Laterne und Schlafmütze, «wie bei Max und Moritz». Dort wurde das Korn in die Maschine geleert, im Fallen ausgeblasen, in den tieferen Etagen gesiebt, gemahlen und schliesslich im Keller aufgefangen. Die Worble trieb die Maschine an, das Korn (etwa 200 Kilogramm pro Stunde) musste aber mit blosser Muskelkraft in den Dachstock getragen werden. Am Ende war die Spreu vom Weizen (respektive Dinkel) getrennt. Im benachbarten Gebäude wurden die Körner dann zu Mehl verarbeitet.

Feinsäuberlich haben Reinhard und seine Vorgänger die Geschichte der Wegmühle aufgearbeitet. Reinhards Chronik beginnt allerdings nicht vor 400, sondern vor über 700 Jahren. Mindestens seit 1275 drehe sich an der Worble bei Bolligen ein Mühlenrad. «Wo immer es Menschen und Wasser gab, entstanden damals Mühlen», sagt Reinhard. «Die Schweiz war mausarm und regelmässig kam es nach Missernten zu Hungersnöten.» Mühlen seien somit im Agrarstaat Schweiz bald zu Zentren der Siedlungsentwicklung und zum Angelpunkt eines vorindustriellen Wirtschaftssystems geworden. So auch in Bolligen. Die Wegmühle überdauerte die Zeit und wandelte sich mit ihr. Bereits im 14. Jahrhundert entwickelte sich das Areal zu einer eigentlichen Gewerbezone mit eigener Sägerei, Stampfi und Reibmühle. Die Besitzer der Gebäude trugen ab dem späten 17. Jahrhundert zunehmend Patriziergeschlechter wie Tscharner, Tillier, Willading oder Fellenberg. 1786 schliesslich erreichte die Industrialisierung auch Bolligen. Die Säge wurde abgerissen und durch eine Papierfabrik ersetzt. Der Einstieg in die Papierbranche erwies sich als riskante Investition. Es folgten Konkurse, Versteigerungen und die Stilllegung der Fabrik im Jahr 1839.

Zurück zu den Wurzeln

Die Fabrik wurde in der Folge wieder zur Mühle und ging 1876 in den Besitz eines gewissen Johann Walther über. Mit ihm kam um die Jahrhundertwende nicht nur der wirtschaftliche Erfolg zurück - auch in sozialen Belangen erlebte die Wegmühle eine kurzlebige Blütezeit. Das «Herrenhaus» auf dem Areal bezogen mit Helene von Mülinen und Emma Pieczynska-Reichenbach zwei Frauenrechtlerinnen, die sich national und international für das Stimmrecht und die rechtliche Gleichstellung der Frau starkmachten. Bis 1920 blieb die Bolliger Wegmühle ein Wallfahrtsort für emanzipierte Frauen aus aller Welt.

Heute führt Jürg Reinhard den Betrieb seines Ururgrossvaters in fünfter Generation. Wieder ist die Mühle ein Knotenpunkt für die regionale Landwirtschaft: «Sämtliche hier verarbeiteten Körner kommen aus einem Umkreis von 15 Kilometer», so Reinhard. Zwölf Mitarbeiter verarbeiten täglich 40 Tonnen Getreide, rund um die Uhr, aber ohne Laterne und Schlafmütze. Die Mühle läuft heute mit Wasserkraft aus der Worble vollautomatisch. Auch die Abnehmer sind regional verankert: Hauptkunde ist die Berner Bäckerei Reinhard, ebenfalls im Familienbesitz.

Zwei streitbare Bolliger Wahrzeichen stehen heute noch für den wirtschaftlichen Aufstieg der Wegmühle: ein 37 Meter hohes Betonsilo aus dem Jahr 1930 und sein 8 Meter grösseres Ebenbild aus dem Jahr 1964. Die 1613 erbaute Kundenmühle hat in der neuen, industrialisierten Müllerwelt keinen Platz mehr. Bereits 1925 baute Otto Walther (Reinhards Grossvater) die eine Hälfte der Kundenmühle in Arbeiterwohnungen um. Den Rest des Hauses benutzte bereits er als Abstellkammer.

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Erstellt: 24.04.2013
Geändert: 24.04.2013
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