Bolligen - "Mit den Menschen unterwegs sein"

Eine Ära geht zu Ende: Am Sonntag feiert Bolligen den Abschiedsgottesdienst von Pfarrer Fortunat Wyss. Seit 1986 haben er und seine Frau Susi das Gemeindeleben geprägt.

Simon Wälti / Der Bund
Eigentlich, findet er, solle man nicht zu viel Aufhebens um seine Person machen. «Ich bin einer von vielen, die pensioniert werden», sagt Fortunat Wyss, seit 26 Jahren Pfarrer in Bolligen. Aber vielleicht könne er ja dem einen oder anderen Mut machen, den Pfarrberuf, den er als «etwas unerhört Wertvolles» erlebt habe, zu ergreifen. Am nächsten Sonntag feiert er seinen letzten Gottesdienst.

Ihm liegt es nicht, etwas in Beschlag zu nehmen, sich in den Vordergrund zu drängen. Darum will er sich für das Bild auch nicht direkt vor der Kirche in Bolligen platzieren. Dann schon lieber im mit Tulpen überwachsenen Garten vor dem Pfarrhaus und mit seiner Frau Susi an seiner Seite. «Meine Frau hat mich in all diesen Jahren unerhört unterstützt», sagt Wyss. Mit ihrem Zuhören, ihrem tatkräftigen Anpacken und ihrer eigenen Stimme habe sie vielen Menschen Mut gemacht. «Ich gehöre einer aussterbenden Gattung an», sagt sie lachend. «Ich war eine Fulltime-Pfarrfrau.»

Nachfolger des Vaters

Das Pfarrhaus wurde 1581 erbaut und 1961 renoviert. Damals zog Fortunat Wyss als Achtklässler zum ersten Mal ins Haus ein. Sein Vater war als Pfarrer nach Bolligen berufen worden, zur Kirchgemeinde gehörten damals auch die heute selbstständigen Kirchgemeinden Ittigen und Ostermundigen. Wyss verbrachte also bereits als Jugendlicher einen Teil seines Lebens im historischen Gebäude neben der Kirche. Und als sein Vater, der heute 93-jährige langjährige «Bund»-Kolumnist Peter Wyss, 1985 pensioniert werden sollte, pilgerte eine Delegation des Kirchgemeinderats nach Habkern, wo Fortunat Wyss damals mit seiner Frau seit elf Jahren als Pfarrer wirkte. Die Bolliger beabsichtigten, den Sohn als Nachfolger des Vaters zu verpflichten. «Die Bolliger wollten Kontinuität», erinnert sich Susi Wyss. Der Entscheid sei nicht leichtgefallen, sagt Fortunat Wyss. «Ich dachte erst, die Stelle ist mehr als eine Nummer zu gross für uns.» Habkern habe 600, Bolligen aber 6000 Einwohnerinnen und Einwohner. Trotzdem entschlossen sich die beiden, nach Bolligen zu ziehen. Das Paar hatte grossen Respekt vor der neuen Aufgabe. «Wir sahen ja auch, was alles lief in der Kirchgemeinde», sagt Susi Wyss. «Aber wir wussten, auf welchen Boden wir kommen.» Dieser Boden, den seine Eltern zusammen mit den Pfarrkollegen und vielen engagierten Gemeindemitgliedern gelegt hätten, trage bis heute, sagt Fortunat Wyss. «Darauf haben wir weitergearbeitet», ergänzt seine Frau.

«Ich will gar nichts ‹bewirken›»

Am 15. April 1986 trat Fortunat Wyss in die Fussstapfen seines Vaters. «Auf Wyss folgt Wyss», titelte damals der «Bund». Auf die Frage der Journalistin, was er in Bolligen bewirken wolle, antwortete er: «Ich will gar nichts ‹bewirken›.» Er sei nie ein Mensch gewesen, der sich feste «Legislaturziele» gesetzt habe. «Ich wollte mit den Menschen in der Gemeinde leben, mit ihnen unterwegs sein, ich wollte nie derjenige sein, der alles weiss.» Man tue, was einem «vor die Hand kommt und nötig ist», sagt Susi Wyss. An Arbeit fehlte es nicht: Sie managte den Kirchenbasar, liess sich als Katechetin ausbilden und übernahm viele Aufgaben in der Kirchgemeinde.

Das Paar arbeitete und lebte während 26 Jahren in der Gemeinde Bolligen. «Du warst mit Leib und Seele Pfarrer», schreibt der Kirchgemeinderat zum Abschied in der Zeitung «reformiert». Der Ratsuchende habe gespürt, dass er ernst genommen werde. Wyss habe versucht, in jedem Menschen das Gute zu finden. Vielleicht sei das Staunen über das Wunder und die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen das Wichtigste, was er gelernt habe, sagt Wyss dazu.

«Warum tut er sich das an?»

Fast zeitgleich mit der Berufung nach Bolligen erhielt Fortunat Wyss damals eine Hiobsbotschaft: Bei ihm wurde die Krankheit multiple Sklerose diagnostiziert. «Aber eine langsam fortschreitende Form der Krankheit», sagt seine Frau Susi. Wyss kann sich bis heute selbstständig bewegen, benützt für das Gehen aber zwei Stöcke oder verwendet für längere Strecken einen Elektro-Scooter. «Von aussen hat es vielleicht manchmal mühsam gewirkt, wie langsam ich mich bewegte», sagt Wyss. Manche hätte vielleicht gedacht: «Das ist doch eine Zumutung, warum tut er sich das an?» Doch er wollte «das durchstehen». Es brauchte nicht nur einen starken Willen und Disziplin, sondern auch die Unterstützung vieler Menschen, um damit zurechtzukommen.

Wyss wollte nicht auf die Krankheit reduziert werden; so lehnte er es einmal ab, sich als Beispiel für den Tag der Kranken porträtieren zu lassen. «Ich bin nicht einfach der kranke Wyss, sondern der Wyss, der halt auch eine Krankheit hat», sagt er. Die Krankheit habe er «ohne inneren Kampf» akzeptieren können. «Nur manchmal war ich schon wütend, ich hätte meinen Kindern gerne die Berge gezeigt.» Das Gottvertrauen kam ihm jedoch in all den Jahren nie abhanden: «La solution existe», steht auf einem Bild im Wohnzimmer. Wyss sah in seiner Krankheit sogar einen Vorteil bei schwierigen Gesprächen mit leidgeprüften Menschen. «Sie fühlten sich vielleicht besonders gut verstanden, weil ihnen jemand gegenübersass, der selber auch zu kämpfen hatte.»

Die Freiheit des Glaubens

In den letzten Tagen seiner Amtszeit widmet sich Wyss der Ausarbeitung seiner letzten Predigt am Sonntag - in seiner «Studierstube», wie der 65-Jährige sagt. Schon lange steht für ihn fest, dass er über den Philemonbrief und das Thema Freiheit predigen wird. «Die Freiheit des Glaubens war für mich immer ganz wichtig», sagt Wyss. «Auch die Freiheit, die ein Mensch im christlichen Glauben erleben kann.» Wyss ist kein eifriger Missionar, der über den Exodus der Menschen aus den Kirchen klagt. «Es ist nicht eine gottlose Zeit, viele Menschen sind am Fragen und Suchen, sie lassen sich die Antworten aber nicht einfach von der Kirche vorgeben.» Für Wyss sind Glaube und Vernunft keine Gegensätze. «Die Vernunft alleine führt nicht zum Ziel, ein Glaube, der die Vernunft ausschliesst, missachtet aber, dass auch das Denken eine Gabe Gottes ist.»

[i] Abschiedsgottesdienst, Sonntag, 13. Mai, 9.30 Uhr in der Kirche Bolligen mit anschliessendem Apéro.

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Erstellt: 11.05.2012
Geändert: 11.05.2012
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