Bolligen - "Gegen die Dominanz der Männer" - frühere Aktivistinnen sind heute Grossmütter

In der Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre engagierte sich auch die Bolligerin Sonja Graf.

Katharina Schwab / Der Bund
Die zierliche Frau sitzt auf einem Ledersessel, ihre kurzen roten Haare fallen ihr beim Reden immer wieder in die Stirn, die sie mit einer heftigen Bewegung wegstreicht. Mit ihren Händen unterstreicht sie das Gesagte oder stützt sie den Kopf ab, wenn sie länger überlegt. Sonja Graf ist eine der Teilnehmerinnen einer Studie, in der untersucht wurde, wie die jüngere Frauengeschichte die weibliche Generation der Vorbabyboomer (1935 bis 1945) beeinflusst hat.

Graf war 28 Jahre alt, als sie das erste Mal von der Frauenbewegung hörte. Damals war sie eine junge Mutter und ging auf die Strasse, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Schon früh sei sie politisiert worden, durch ihre Grossmutter, die sich in den 1950er-Jahren im Frauenstimmrechtsverein engagierte, und durch Lehrerinnen. Sie erinnert sich an einen Deutsch-Aufsatz, in dem sie ihre Zukunftspläne beschreiben musste: «Unsere Lehrerin tadelte diejenigen, die schrieben, sie wollen heiraten und Mutter werden; zum Glück gehörte ich nicht zu denen.» Aufgewachsen sei sie in einer konservativen Familie. Dass sie nicht studieren oder eine höhere Ausbildung machen durfte, fand Sonja Graf zwar «ungerecht und es kränkte mich, aber ich habe es akzeptiert». Anstatt – wie damals im Aufsatz geschrieben – Lehrerin zu werden, machte sie eine kaufmännische Lehre, heiratete ihren Mann Urs und wurde mit 24 zum ersten Mal Mutter. Sie blieb zu Hause und kümmerte sich um Tochter und Sohn. «Manche Tage wurden lang», sagt Graf. Sie merkte zunehmend, dass ihr eine geistige Herausforderung fehlte. Sie las Schunken wie «Das Kapital» von Karl Marx und bildete sich in Fernkursen weiter.

Alle Männer in einen Topf

Als die junge Mutter 1971 der Organisation für die Sache Frau, kurz Ofra, beitrat, «fand ich ein neues Zuhause», sagt Graf. Ihre Mitstreiterinnen seien häufig noch Studentinnen gewesen, «sie waren jünger als ich, sehr mutig und tough und nahmen kein Blatt vor den Mund». Die Frauen seien radikal gewesen, und auch sie sei eine Zeit lang vehement gegen die Dominanz der Männer gewesen. «Das fand ich in dem Moment ungerecht», sagt ihr Mann Urs Graf. Er habe sie immer unterstützt, wollte eine Frau, die sich auch politisch interessierte und mitdiskutieren konnte. «Als ich dann den Kopf hinhalten musste, nur weil ich ein Mann war, mussten wir zusammen reden.» Auch Sonja Graf ist sich dieser Zeit sehr bewusst; irgendwann sei der Moment gekommen, an dem sie wusste: «Durch meine Radikalität setze ich viel aufs Spiel.»

Einer der Hauptforderungen von Sonja Graf und den Ofra-Frauen war, dass Frauen sowohl beruflich als auch gesellschaftlich den gleichen Wert haben wie Männer. Dass Frauen in Diskussionen meist gar nicht zu Wort kamen, störte sie. Als die Schweizer Männer am 7. Februar 1971 den Frauen das aktive Stimm- und Wahlrecht genehmigten, sass Sonja Graf gespannt vor dem Radio. «Es war ein Freudenfest», sagt sie. Sie habe fest an ihre verstorbene Grossmutter gedacht und dass sich ihre Lehrerinnen sehr darüber gefreut hätten. Immer wieder ging sie gemeinsam mit den Ofra-Frauen auf die Strasse, verteilte Flugblätter und versuchte, mit Frauen zu reden. Sie gab Kurse und unterrichtete Frauen in politischer Bildung. «Wir erklärten, wie eine Gemeinde aufgebaut und organisiert ist und wie man einen Abstimmungszettel ausfüllt.»

Kämpfen und proklamieren

Gerade in ihrer Herkunftsfamilie sei sie durch ihr Engagement auf viel Unverständnis gestossen. Aber auch an ihrem Wohnort Bolligen: Nachdem ein Artikel von ihr im Gemeindeblatt erschienen ist, habe sie einen anonymen Brief erhalten, «darin stand, ich sei doch eigentlich eine sympathische Frau, aber ich solle gefälligst aufpassen. Zudem spürte ich, dass die Leute teilweise einen Bogen um mich machten.» Es scheint sie nicht gross gestört zu haben. Die quirlige 68-jährige Frau erzählt gern von der Zeit damals, als sie zusammen kämpften, proklamierten und reklamierten. Der Zusammenhalt unter Frauen sei riesig gewesen, sagt Graf. Und sie sagt klar: «Die Frauenbewegung hat mein Leben stark beeinflusst – ohne sie hätte ich nie ein solches Selbstwertgefühl als Frau entwickelt.» Am ersten Frauenstreiktag 1991 hat sie zusammen mit Kolleginnen ein Treffen organisiert. «Wir sprachen darüber, wie wir als Frauen in der Gesellschaft mehr Gewicht erhalten können.» An die Aufbruchstimmung damals erinnert sich Graf sehr gut. «Der allgemeine Tenor lautete: Uns gelingt alles, wenn wir nur wollen.»

Seit 26 Jahren ist sie selbstständige Supervisorin und berät Frauen in ihrer beruflichen Laufbahn. Zudem ist sie dreifache Grossmutter. Ihren Enkelinnen und dem Enkel möchte sie vor allem eines mitgeben: «Dass Frau und Mann gleichwertig sind, aber durchaus auch unterschiedlich.»

[i] Studie "Frauengeschichte - Frauenalltag" unter www.grossmuetter.ch.

Fehler gefunden?
Statistik

Erstellt: 14.06.2011
Geändert: 14.06.2011
Klicks heute:
Klicks total: