Bolligen - Der Schwinger und die Tänzerin

Was haben ein Schwinger und eine Tänzerin gemeinsam? Nicht viel – könnte man meinen. Die Realität sieht jedoch anders aus, wie eine Begegnung zwischen Willy Graber und Marina Utiger in Bolligen beweist.

Markus Zahno, Berner Zeitung BZ

An der Wand hängen drei Dutzend Schwingerhosen. Marina Utiger schaut sie etwas ratlos an, denn in die meisten würde sie doppelt oder dreifach passen. «Nimm diese hier», empfiehlt Willy Graber. Die junge Frau probiert die Hose an. Sie ist zwar immer noch zu gross, aber «momou, es geht».

Marina Utiger und Willy Graber: Auf den ersten Blick könnten sie gegensätzlicher kaum sein. Sie, die zierliche, 1,55 Meter grosse Tänzerin und Musicaldarstellerin. Er, der eineinhalb Köpfe grössere und doppelt so schwere Spitzenschwinger. Im Trainingslokal des Schwingklubs Worblental in Bolligen haben sie sich getroffen, um über Gegensätze und Gemeinsamkeiten zu sprechen, um einander ein paar Tanzübungen und Schwingergriffe zu zeigen (siehe Video in der Box). Graber macht den Anfang. «Mit der rechten Hand musst du hinten meinen Gurt fassen, mit der linken vorne die Hosen», erklärt er ihr. «Ja, genau so.» 

Der 85-fache Kranzgewinner demonstriert einen Schwung, den Übersprung, und legt Marina Utiger ins Sägemehl – allerdings deutlich sanfter, als er dies bei Stucki Chrigu oder Sempach Mättu täte. «So, und jetzt bist du dran.» Utiger setzt zum vorher erklärten Übersprung an, und schon liegt Graber platt auf dem Rücken. Ein sauberes Zähni.

Gleiche Verletzung

Marina Utiger und Willy Graber haben sichtlich Spass. Interessiert stellen sie einander Fragen, und schon nach fünf Minuten finden sie die erste Gemeinsamkeit. Die Tänzerin erzählt, wie sie als Teenager in Hamburg das Kreuzband riss. «Ich machte einen Sprung aus dem Musical ‹Cats›. Als ich landete, schlug es wie ein Blitz durchs Knie.» 

Neun Monate durfte sie danach nicht tanzen, sie, die bis dahin jeden Tag «übte wie eine Verrückte». Das sei eine harte Erfahrung gewesen, sagt die heute 28-Jährige. «Diese Verletzung zeigte mir: ‹Du musst aufpassen, darfst deinen Körper nicht überbelasten.›»

Bei Willy Graber «chlepfte» es diesen Frühling im Knie. Trotz Kreuzbandriss wollte er die Saison fortsetzen. Das monatelange Aufbautraining und die Entbehrungen der Familie sollten nicht umsonst sein. Irgendwann konnte ihn der Arzt aber überzeugen, die Saison abzubrechen. «Sonst hätte ich das Karriereende riskiert», sagt der 31-Jährige. «Das war es nicht wert.» Schliesslich will er am «Eidgenössischen» 2016 voll angreifen.

Profi oder lieber Amateur? 

Apropos Gemeinsamkeiten: Sowohl für einen Schwinger wie für eine Tänzerin ist es schwierig, von ihrer Passion zu leben. Marina Utiger zog mit 19 Jahren aus, um die Hamburg School of Entertainment zu besuchen. Danach hatte sie verschiedenste Engagements, unter anderem an der Hamburger Staatsoper, ehe sie für das Musical «Saturday Night Fever» letztes Jahr in die Schweiz zurückkehrte. 

«Um für eine Grossproduktion engagiert zu werden, braucht es auch Glück», sagt sie. Man müsse zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. «Mein Ziel ist, von Tanz und Musical leben zu können.» Im Moment geht das nicht. Deshalb arbeitet sie zusätzlich im Verkauf und wohnt wieder daheim bei den Eltern in Moosseedorf.

Willy Graber lebt mit seiner Frau und den zwei Töchtern in Geristein oberhalb von Bolligen. Auch sein Trainingsaufwand ist gross, vergleichbar mit jenem eines Profifussballers, der ein paar Hunderttausend Franken verdient. Graber dagegen sieht das Schwingen als Hobby, hat daneben einen Bauernbetrieb und einen 80-Prozent-Job als Dachdecker. Jammern mag er deswegen nicht – im Gegenteil. Wolle ein Schwinger mit Werbeverträgen viel Geld verdienen, werde er unweigerlich in seiner Freiheit eingeschränkt. «Dann sagt dir der Manager: ‹Um diese Zeit musst du dort auftreten.›» Graber seinerseits kann tun und lassen, was er will. «Das geniesse ich.»

«Sehr beweglich»

Und wie steht es mit dem Tanzen? Willy Graber schmunzelt. Vor der Hochzeit hätten seine Frau und er in einem Kurs ein paar Grundschritte gelernt. Auch habe er früher an der Street Parade jeweils «chli tänzlet», berichtet er. Das weckt die Neugier von Marina Utiger. «Komm», sagt sie, «wir versuchen ein Plié», eine typische Pose aus dem Ballett. Sie gibt Anweisungen: Beine zusammen, Arme nach vorne, hinunter in die Knie, mit dem Oberkörper gerade bleiben. «Gerade bleiben!» Dann wieder nach oben, auf die Zehenspitzen, die Arme ganz nach oben. «Yeah!»

Marina Utiger ist zufrieden mit ihrem Schüler. «Er ist sehr beweglich», bilanziert sie, während sie das Sägemehl aus den Ballerinas schüttelt. Willy Graber ist derweil beeindruckt von der Körperspannung, die eine Tänzerin haben muss. Wenn er im Fernsehen das nächste Mal ein Ballett entdeckt, wird er nicht mehr so rasch wegzappen. «Ich schaue das nun mit ganz anderen Augen an», sagt er.


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Erstellt: 29.09.2015
Geändert: 29.09.2015
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