Bettina Gerber: «Die Leute sind eher dünnhäutig»
Bettina Gerber ist seit zwei Jahren Gemeindepräsidentin von Oberdiessbach. BERN-OST wollte von ihr wissen, was Oberdiessbach für ein Dorf ist, und ob sie als Richterin auch mal ein schlechtes Gewissen hat.
Bettina Gerber (45, Die Mitte), wurde vor zwei Jahren zur Gemeindepräsidentin von Oberdiessbach gewählt. Hauptberuflich arbeitete sie von 2011 bis 2017 als Vorsitzende an der Regionalen Schlichtungsbehörde Oberland, seit 2018 amtet sie als Gerichtspräsidentin am Regionalgericht Bern-Mittelland. Gerber ist Mutter von drei Kindern.
BERN-OST: Bettina Gerber, wie schauen Sie auf die ersten beiden Jahre als Gemeindepräsidentin zurück?
Bettina Gerber: Auf viel Arbeit und viele schöne Begegnungen. Es gibt viel zu tun, sei es die Schulraumplanung, der Tiefbau, Tempo 30, Strassen, die erweitert werden müssen, das Vogt-Areal, die Feuerwehr und nicht zuletzt die Schule. Ich schaue zurück auf zwei schöne Jahre mit meinen Ratskollegen und -kolleginnen, wobei wir uns zuerst schon etwas finden mussten. Wir waren vier Neue im Gemeinderat, es ist eine angenehme respektvolle Zusammenarbeit. Wir ziehen am selben Strick, das gilt auch für die Verwaltung.
Wie erklären Sie jemandem, was Oberdiessbach für ein Dorf ist?
Wir sind ein Dorf eingangs des Kiesentals mit 3500 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wir haben drei Ortsteile, ein reges Vereinsleben, Kultur, die gepflegt wird, ein Gewerbe, einen guten ÖV und ein Schloss.
Kennt man sich im Dorf?
Ja, schon, man sieht sich beim Einkaufen, beim Beck oder in der Metzg. Neu haben wir wieder etwas mehr Gastgewerbe, oder man trifft sich an einem Konzert, wir haben einen langen Veranstaltungskalender. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu begegnen.
Im letzten Jahr sind eine Steuererhöhung und die damit verbundene Sanierung der Schule vom Stimmvolk deutlich (64 Prozent Ja) angenommen worden. Wie geht es weiter mit dem Schulhaus?
Die Baubewilligungen für das Geissbühlerhaus und die Erweiterung des Schulraums liegen vor. Mit dem Neubau des Schulhauses und der Sanierung des Geissbühlerhauses starten wir im März.
Im Herbst gab vor allem das geplante Tempo-30-Regime zu reden. Tempo 30 gibt es in Wichtrach, Konolfingen, Worb, Münsingen und vielen anderen Ortschaften. Aber nur in Oberdiessbach hat sich ein Komitee gebildet, welches dies bekämpft. Warum ist das so?
2013 hatten wir eine Gemeindeversammlung, damals wollte der Gemeinderat in sämtlichen Quartieren Tempo 30 einführen, was wuchtig abgelehnt wurde. Wir haben also gewissermassen eine Geschichte mit Tempo 30. Seither hat sich die Situation verändert, das Dorf ist gewachsen, wir haben mehr Verkehr und müssen die Schulwege sichern. Auch die Hauptstrasse muss dringend saniert werden. Noch der alte Gemeinderat hat beschlossen, Tempo 30 in einer abgespeckten Version nochmals zu bringen.
Für die Kantonsstrasse sagt uns der Kanton, es gebe primär wegen der Lärmbelastung keinen Spielraum beim Tempo. Hier ist der Kanton Bauherr, der Gemeinde kommt lediglich ein Mitspracherecht zu.
Oberdiessbach ist ländlich, viele sind mit dem Auto unterwegs. Wir haben Bauern mit Traktoren, Lastwagenfahrer aber auch Privatpersonen, die sich bevormundet fühlen, wenn sie auf der Hauptstrasse nur noch 30 fahren dürfen. Warum ausgerechnet hier ein Komitee gebildet wurde, kann ich nicht sagen. Wobei man sagen muss, dass sich der Widerstand primär gegen Tempo 30 auf der Kantonsstrasse richtet.
Sie wurden an der Info-Veranstaltung auch angegriffen, dass Sie eine Salamitaktik betreiben würden und vom Kanton Tempo 30 gefordert hätten.
Das ist kein sachlicher Vorwurf, sondern ein persönlicher. Ich weise das zurück. Wir haben weder auf der Haubenstrasse noch auf dem Gumiweg Tempo 30 eingeführt, das galt nur während der Dauer der Baustelle. Auch die Haltestelle beim Altersheim wurde nicht extra so gebaut, dass man dort langsamer fahren muss. Gemäss dem Behindertengleichstellungsgesetz mussten wir diese Haltestelle bis Ende Jahr behindertengerecht umbauen.
Es ist nicht der Gemeinderat, der Tempo 30 will, die Durchgangsstrasse gehört dem Kanton und dieser sagt klar, die Lärmwerte sind zu hoch. Wir haben kritisch nachgefragt, wie diese Lärmwerte berechnet wurden. Laut Kanton ist dieser 30er nach heutigem Recht praktisch zwingend. Das können wir nicht beeinflussen, schliesslich können wir diese Gesetze nicht ändern. Deshalb wehre ich mich gegen den Vorwurf, dass wir Tempo 30 gefordert hätten.
Als Sie beim Kanton waren, haben Sie deponiert, dass sie kein Tempo 30 auf der Ortsdurchfahrt wollen?
Wir waren dort und haben gesagt, dass die Bevölkerung von Oberdiessbach sich klar gegen Tempo 30 ausgesprochen hat und wir das nicht wollen. Früher hiess es von Seiten des Kantons, die Gemeinde müsse den Tempo-Entscheid mittragen. Aber heute heisst es, man habe keine andere Wahl mehr.
Es gab 166 Eingaben bei der Mitwirkung zu Tempo 30, wie viele davon waren positiv? Was passiert jetzt damit?
Wenn man die Eingaben liest, merkt man, die Leute fühlen sich bevormundet, wenn man nur noch 30 fahren darf. Es hat positive wie negative Eingaben, nach meiner ersten Einschätzung hält es sich in etwa die Waage.
Diese Eingaben kamen nicht nur aus Oberdiessbach, wer hat sich von ausserhalb eingebracht?
Bezüglich Kantonsstrasse kann jeder, der ein Interesse nachweisen kann, mitreden. Das sind Carunternehmen aus der Umgebung, aber auch Privatleute. Wir sehen die Kritik als Auftrag, dem Kanton kritisch zu begegnen.
Wir sind mit dem Kanton zusammengesessen, diese Eingaben werden jetzt ausgewertet. Im Frühling werden wir berichten.
Mischt sich der Kanton zu oft in die Angelegenheiten der Gemeinde ein?
Persönlich finde ich, dass es sehr viele Vorschriften gibt. Immer wieder muss man eine Amtsstelle einladen, die auch noch etwas sagen muss. Manchmal wäre es schön, es gäbe weniger Vorschriften und wir könnten den gesunden Menschenverstand nutzen, da wären wir schneller am Ziel.
Ein schönes Beispiel finde ich das Zivilgesetzbuch. Das ZGB ist 1907 in Kraft getreten, seither kam nur das Stockwerkeigentum dazu, sonst ist das Gesetz praktisch immer noch gleich wie vor 117 Jahren. Es ist so klar und präzise formuliert.
Bei neueren Gesetzen merkt man häufig, dass sie in einer schnelllebigen Zeit geschrieben wurden. Ich wünschte mir, es gäbe mehr Gesetze wie das ZGB.
Neben dem Verkehr, wo drückt der Schuh sonst noch in Oberdiessbach?
Neben den grossen Baustellen gibt es auch solche, die man nicht sieht. Wir hatten personelle Wechsel auf der Gemeinde, mussten mit Interimslösungen arbeiten. Man muss kreativ sein, um Leute zu rekrutieren und um als Arbeitgeberin attraktiv zu bleiben. Wir mussten neue Schulleitungen anstellen, wobei es schwierig ist, Leute mit Erfahrung zu finden. Man darf nicht riskieren, dass eine Lehrperson kündet.
Generell habe ich den Eindruck, dass die Leute eher dünnhäutig sind, man muss sich viel anhören, speziell auf der Verwaltung. Viele sind gefordert, sei es privat, im Beruf, finanziell, Krankenkassenprämien, Strom und Mehrwertsteuerer steigen. Man merkt das den Leuten an. Nach Corona kam der Krieg, danach die Teuerung, man hat das Gefühl, es hört nicht mehr auf. Trotz allem muss man zuversichtlich bleiben, das gilt nicht nur für Oberdiessbach. Ich hoffe, es wird wieder besser. Wir versuchen stets das Möglichste zu tun, dass es im Kleinen gut weitergeht.
Seit 2018 sind Sie Gerichtspräsidentin am Regionalgericht Bern-Mittelland. Warum sind Sie Richterin geworden?
Auf Anhieb wollte ich nicht Jus studieren. Im Gymer war ich in einer Wirtschaftswoche fasziniert von dieser Materie, vom logisch-analytischen Denken, dass man Schlüsse ziehen muss aus einem Sachverhalt. Dann studierte ich Jus und wusste vom ersten Tag an, das ist das, was ich will. Nach einem kurzen Einsatz als Anwältin wurde ich Gerichtsschreiberin. Am Richterberuf gefällt mir, dass ich mit vielen Geschichten aus dem Leben zu tun habe. Dass man das Recht anwenden und sich für den Rechtsfrieden einsetzen kann. Das ist eine Aufgabe mit grosser Verantwortung, aber auch mit viel Dankbarkeit. Ich entscheide wenig, ich versuche möglichst immer, einen Weg für einen Vergleich zu finden.
Sie sind Richterin am Zivilgericht, welche Fälle werden bei Ihnen verhandelt?
Das sind Fälle zwischen Privatpersonen, die Streit haben. Das kann ein Nachbarschaftsstreit sein, es kann ein Streit mit dem Arbeitgeber sein, es kann um Mietrecht gehen, aber auch um Konkurse, Scheidungen oder Trennungen.
Anhand von was urteilen Sie, wer im Recht ist?
Da gibt es klare Regeln. Beide behaupten etwas, danach folgt ein Beweisverfahren. Das Gesetz sagt klar, wer was beweisen muss. Wer einen Anspruch stellt, muss das beweisen können. Dann folgt die Beweiswürdigung, und das Gericht ermittelt das Beweisergebnis. Die rechtlichen Schlüsse ziehen wir danach.
Haben Sie als Richterin auch mal ein schlechtes Gewissen?
Es kommt schon vor, dass ich Fälle mit nach Hause nehme. Insbesondere im Familienrecht gibt es Konstellationen, die einen beschäftigen. Da kann es um Kinderbelange gehen, wo ich mit Kindern spreche, das lässt einen schon nicht kalt. Da überlege ich mir gut, wie ich entscheide. Ich versuche mich immer gut vorzubereiten und allen so zu begegnen, als wäre es der wichtigste Fall, den ich behandle. Unzufrieden bin ich dann, wenn mir das nicht gelingt. Ansonsten gibt es immer noch eine weitere Instanz, die den Fall nochmals überprüfen kann.
Zurück nach Oberdiessbach. Im Gemeinderat haben sie eine Frauenmehrheit, vier Frauen und drei Männer. Spürt man das, politisieren Frauen anders?
(Lacht) Das müsste man die fragen, die vorher dabei waren. Lange sass nur eine Frau im Gemeinderat. Aber ich denke schon, dass man es spürt. Man sagt, Frauen sind besser im Zuhören und hören auch mal, was es für Meinungen gibt. Vielleicht dauern die Diskussionen länger, aber dafür wird engagiert diskutiert. Immerhin ist der Gemeindeschreiber noch ein Mann, so dass wir ausgeglichen sind.
[i] Bettina Gerbers Pensum am Regionalgericht Bern-Mittelland beträgt 80 Prozent.