Allmendingen - Seit fast 40 Jahren feiert er die erste Weihnacht ohne Predigt
18 Jahre lang war Jürg Welter Pfarrer am Berner Münster. Das Amt hat er als 63-Jähriger aufgegeben und ist nach Allmendingen gezogen.
Nomen est omen. Gottshaus heisst der Heimatort des Pfarrers Jürg Welter. Und in Bethlehem ist er aufgewachsen. In Bern hat er auch studiert, Theologie. «Ich wollte ursprünglich gar nicht Pfarrer werden», sagt der 63-Jährige, «aber dann habe ich trotzdem ein Pfarramt im solothurnischen Buechiberg angenommen.» Ausprobiert habe er den Beruf des Pfarrers. Es hat ihm gefallen. Nach 4 Jahren wechselte er nach Wohlen, wo er 15 Jahre tätig war. 1995, als 45-Jähriger, wurde er von der Münsterkirchgemeinde angefragt, ob er nach Bern kommen wolle.
Sechs Zimmer weniger
Jürg Welter blieb 18 Jahre im Berner Münster und bewohnte im Kirchenfeld mit seiner Frau und den vier Kindern ein Pfarrhaus mit zehn Zimmern. Jetzt ist er umgezogen und hat im Wohnpark Schloss Allmendingen eine Viereinhalbzimmerwohnung gekauft, die er mit seiner Frau und einer Hauskatze bewohnt. Die erwachsenen vier Kinder sind ausgezogen, keines von ihnen hat den Beruf des Vaters ergriffen. «Ich war wohl ein abschreckendes Beispiel», meint Jürg Welter und lacht.
Vollgestopfte Bücherregale
«Zum ersten Mal in meinem Leben wohne ich in moderner Architektur, und es gefällt mir sehr gut», sagt Welter. Das Büro B Architekten hat hier drei Häuser gebaut, drei weitere sollen folgen. Welters Wohnung ist offen konzipiert, mit grossen Fenstern, einer nicht abgeschlossenen Küche mit frei stehendem Kochherd. Speziell ist die in den Wohnraum eingebettete, verglaste Loggia, eine Art Balkon in der Wohnung. Hier stehen ein Tisch und Stühle, eine Statue des Reformators Martin Luther. Zahlenmässig am prominentesten vertreten aber sind Bücher. Die vollgestopften Regale reichen bis zur Decke.
Lesegruppe ins Leben gerufen
«Ein paar Tausend sind es schon», sagt Welter. Aber das sei nur die Hälfte, aus Platzgründen habe er viele Bücher nicht mitnehmen können. Lesen, das ist Jürg Welters Passion. Als Münsterpfarrer initiierte er eine Lesegruppe, die gemeinsam Werke las und diskutierte. Dantes «Göttliche Komödie» beschäftigte die Gruppe über zwei Jahre lang. «Wir haben damals alle 14 Tage 50 Seiten gelesen.» Intensiv auseinandergesetzt hat sich Pfarrer Welter auch mit den Schriften des mittelalterlichen Theologen und Philosophen Meister Eckhart.
Trakl, Nooteboom, Auster
«Ich lese heute immer noch sehr viel, aber zweckfreier», sagt er. Er mag Gedichte. Er mag Georg Trakl, Botho Strauss, Ces Nooteboom, Paul Auster. Aktuell liest er Jean Paul. «Seit meiner Pensionierung ist es für mich ein ganz neues Erlebnis, nicht berufsorientiert zu lesen.» Noch im Amt habe er bei der Lektüre immer daran gedacht, ob er das Geschriebene für eine Predigt oder für den Konfirmationsunterricht verwenden könne.
Er habe resigniert, sagt Welter. Aber er meint die Bedeutung, welche das Wort «resignieren» im Mittelalter gehabt hat. «Damals stand das Wort für ‹Gelassenheit›, heute ist es negativ besetzt.» Ganz ins Schneckenhaus, hinter seine Bücher, hat sich Jürg Welter nicht verkrochen. Er besucht regelmässig das Münster. Sein Nachfolger, Beat Allemand, mache seine Sache sehr gut, meint er. Den Weg in die Kirchen seiner neuen Umgebung – in Allmendingen gibts keine – hat er noch nicht gefunden. Allmendingen gehört zur Kirchgemeinde Münsingen, die am nächsten gelegene ist die Kirche in Kleinhöchstetten. Er sei irgendwie immer noch auf das Münster ausgerichtet.
«Ich habe keine Pläne»
«Ich werde immer wieder gefragt, was ein Münsterpfarrer im Ruhestand macht, was ich plane. Ich plane gar nichts, ich will zuerst zur Ruhe kommen.» Auch Reisepläne gibts keine. «Ich bin ein sehr häuslicher Mensch.» Er geniesse es, keine Sitzungen mehr abhalten zu müssen. Was er hingegen seit seinem Abgang aus dem Münster Ende August vermisse, sei die Orgelmusik , die höre er sich jetzt vermehrt zu Hause an. Worauf sich der Pfarrer freut, ist Weihnachten. «Die Kinder kommen zu uns, ich gehe sicher nicht ins Münster. Seit 37 Jahren ist es das erste Mal, dass ich keine Weihnachtspredigt halten muss – oder darf, ich habe es ja gern getan.»
Die Spitze des Münsters
Jürg Welter mag Allmendingen. Die Leute hier seien sehr nett, im Dorflädeli werde er immer freundlich bedient. Ob man ihn kennt? «Nein, sie wissen nicht, dass ich Münsterpfarrer war. Es ist schön, einmal im Leben in einem Dorf zu leben, ohne eine Rolle spielen zu müssen.» Um das Münster zu sehen, muss Jürg Welter übrigens nicht nach Bern fahren. «Auf dem Spaziergang von Hintermärchligen nach Vordermärchligen gibts eine Stelle, wo ich zwischen zwei Bäumen hindurch gerade noch die Spitze des Münsters sehen kann.»