Wichtrach - Plötzlich war sie dort, wo sie nicht sein wollte
Die 25-jährige Isabel Merki will mit ihrer Leidensgeschichte aufrütteln. Getrieben von einem Zwang zur Perfektion, steckte sie alle Kraft in die Arbeit. Das Essen schob sie auf. Dies bezahlte sie fast mit dem Leben.
Den grassierenden Schlankheitswahn, der durch Medien, Models und Modehäuser angekurbelt wird, kommentiert die diplomierte Kauffrau mit dem Warnfinger: «Denn sie wissen nicht, was sie tun!» Sie möchte all jenen, die sich auf den körperlichen Schlankheitstrip begeben, die Augen öffnen.
Deshalb hat sie sich entschlossen, ihre persönliche Leidensgeschichte der Öffentlichkeit zu erzählen. Aktuell besucht sie Klassen an Gymnasien, um mit ihrer Geschichte, die beinahe tödlich geendet hätte, die Menschen zu sensibilisieren. Ihre Krankengeschichte füllt zwei Bundesordner, die sie zum Gespräch mitschleppt.
Sie war aufgestellt, voller Tatendrang und Ehrgeiz. «Ich wollte es allen recht machen und vergass mich selber dabei komplett.» Hier konnte sie ihren ausgeprägten Hang zum Perfektionismus ausleben. In der Kanzlei herrschte unter den Mitarbeiterinnen ein Kommen und Gehen, eine grosse Personalfluktuation – sie blieb, «denn die Arbeit gefiel mir gut». Fünfeinhalb Jahre arbeitete sie im Sekretariat – mit steigenden Leistungsansprüchen.
Sie war so in die Arbeit vertieft, dass sie das Essen vergass oder sich dies aus Zeitnot nicht gönnte; die Nahrungsaufnahme wurde jeweils auf den nächsten Tag verschoben, fand dann aber doch nicht statt. Sie nahm auch Arbeit mit nach Hause. Freizeit und Freundeskreis vernachlässigte sie vollständig. Nach der Arbeit sank sie erschöpft und mit Kopfweh ins Bett. Das Essen hatte in ihrem Leben plötzlich keinen Platz mehr.
Arbeiten mit ganzer Kraft
Wie konnte sie überhaupt, derart geschwächt, am Arbeitsplatz noch ihre Leistung erbringen? «Ich steckte meine ganze Kraft in die Arbeit», sagt Isabel Merki. Ihr Hausarzt meinte, ihr sturer Steinbock-Kopf hätte wohl einiges beigetragen. Irgendwann, als es fast schon zu spät war, merkte sie selber, dass die Gesundheit zum Problem wurde. Bei der Arbeit für die Opferhilfe war sie plötzlich selber Opfer geworden.
Es waren ihre Eltern, welche die Notbremse zogen. Isabel Merki ist Einzelkind und lebt im Elternhaus, von dem sie sich gerne ablösen möchte. Das Einvernehmen mit den Eltern ist nicht immer das Beste. Die ständigen Anweisungen und Belehrungen, nicht nur von den Eltern, sie solle doch etwas essen, sie sehe aus wie der Tod, prallten an der Tochter ab. Mehr noch: Je mehr Isabel Merki darauf angesprochen wurde, desto mehr verschloss sie sich gegen aussen.
Plötzlich stand der Arzt im Zimmer
Am 19. Mai 2012 stand auf einmal der Hausarzt in ihrem Zimmer. Die Eltern hatten ihn gerufen, ohne die Tochter vorher zu informieren. Seine Diagnose war unmissverständlich: Ihre körperliche Verfassung sei derart alarmierend, dass sie unverzüglich ins Krankenhaus eingeliefert werden müsse. Sie willigte in eine stationäre Behandlung ein.
Doch die Stabilisierung gelang nicht auf Anhieb. Nach mehrmaligen Spitalaufenthalten folgten Therapien, Konsultationen in Tageskliniken, Termine bei der Ernährungsberatung und bei einer Psychologin. Sie erlitt zwei Rückfälle und landete auf der Intensivstation. Die Ärzte diagnostizierten multiples Organversagen. Die Leber- und Blutwerte waren ausserhalb jeglicher Norm, die Leberwerte gar um mehr als das 6000-Fache erhöht, die Leistungsfähigkeit des Herzens lag noch bei 25 Prozent. Sie rang mit dem Tod.
Hinzu kam eine schwere Gürtelrose-Infektion. «Ich wurde total isoliert, Besucher durften nicht mehr in mein Zimmer.» Sie verlor ihre Haare und fror permanent. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen. Während dreier Wochen konnte sie nicht einmal mehr im Bett aufsitzen – sie war mit 25 Jahren ein 24-Stunden-Pflegefall geworden.
Der Körper war nicht mehr in der Lage, Nahrung aufzunehmen und zu verdauen. «Ich wollte auf einmal viel essen, aber ich durfte nicht.» Alles war streng durch die Ernährungsberatung geregelt – jede zusätzliche Praline, die sie nun gerne gegessen hätte, hätte sie das Leben kosten können.
Sie wog noch 27,4 Kilo
Ein Gewicht von unter 30 Kilogramm werde sie wohl kaum überleben, sagten die Ärzte. Sie wog noch 27,4 Kilogramm – und überlebte. Insgesamt sechs Monate verbrachte sie im Inselspital und Lory-Haus. Seit Mitte Juni ist sie wieder zu Hause – bis auf Weiteres krankgeschrieben. Jetzt hatte sie Zeit: Mit dem Malen von Seidentüchern entdeckte sie ihre kreative Begabung.
«Ich bin mir bewusst, es ist meine letzte Chance», sagt Isabel Merki. «Die Ärzte im Inselspital haben mich vier Mal gerettet. Ein fünftes Mal würden es meine Organe nicht mehr mitmachen.» Kürzlich las sie in der Zeitung die Todesanzeige einer Mitpatientin, die sie im Spital kennengelernt hatte. Auch sie litt unter Anorexie. Sie starb 19-jährig.
Manchmal plagen sie Selbstvorwürfe: Weshalb hatte sie es so weit kommen lassen? «Warum lebe ich noch, warum darf das die Mitpatientin nicht mehr?» Dann erinnert sie sich an die Worte ihrer Therapeutin: Die Krankheit, nicht sie selber, sei Ursache für ihren Zustand.
Nach strengen Regeln leben
Jetzt muss sie strenge Regeln einhalten. Ein interdisziplinäres Team verfolgt minutiös ihren Heilungsprozess. Sie hat ein dichtes Programm an Konsultationen, Kontrollgesprächen und Therapien wahrzunehmen. «Ich bin froh, dass es bis jetzt funktioniert», sagt Isabel Merki. Beim Einkaufen muss sie die eindringlichen Blicke der Menschen aushalten.
Kürzlich schob sie den Einkaufswagen am Gestell mit Süssigkeiten vorbei, als eine Kundin spöttisch bemerkte: «In diesem Regal befinden sich wohl keine Lebensmittel für Sie.» Solche Bemerkungen schmerzen sie extrem. «Ich bin zwar immer noch dünn, aber immerhin 11 Kilogramm schwerer als auch schon!» meint sie darauf.
Der gesamte Freundeskreis und der grösste Teil der Verwandtschaft wandten sich von ihr ab – bis auf eine Kollegin und einen Kollegen. «Ich fühle mich sehr alleine auf dieser Welt, aber da die Krankheit aus mir wirklich einen anderen Menschen gemacht hat, kann ich verstehen, wenn die Leute den Kontakt mit mir abbrechen. Das muss ich akzeptieren.»
Ende Juni schrieb sie einen offenen Brief an ihre Nachbarschaft in Wichtrach: «Leider hat mich die Anorexie fest im Griff, aber ich versuche mit aller Kraft, ihr zu entfliehen.» Und: «Jede Krankheit, auch wenn sie noch so schwer ist, kann helfen, im Leben einen Neustart zu wagen.»
Mit ihrem mutigen Gang an die Öffentlichkeit will Isabel Merki anderen helfen, ihnen die Augen öffnen. «Wenn dies gelingt, habe ich etwas erreicht.» Zur Verdeutlichung fügt die Kämpferin ein Zitat von Franz Kafka an, das ihre Situation treffend beschreibt: «Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel ist.»